ELIANT-Positionspapier zur Medienerziehung

Vier Perspektiven – eine Botschaft für die Bildungspolitik

1. Perspektive: Psychische Entwicklung des Kindes

Bildung ist für breite Bevölkerungsschichten zugänglich geworden und hat ein hohes Niveau der Inklusion erreicht. Es wurden auch weltweit bemerkenswerte Erfolge bei der Alphabetisierung erzielt. Diese Entwicklung alleine garantiert aber keine positiven Ergebnisse, wenn sie nicht begleitet wird durch eine unverzerrte Reflexion der Rahmenbedingungen für eine gesunde Entwicklung. Dazu gehört auch die Freiheit, in Kenntnis aller Informationen ein hohes Maß an individueller Wahlmöglichkeit auch bei der digitalen Bildung zu erhalten.
Was meinen wir damit? ELIANT engagiert sich dafür, im Rahmen der frühkindlichen Bildung, sowie der Primar- und Sekundarstufe des Schulsystems die Wahlmöglichkeiten für bestimmte Bildungsmittel zu erhalten. Lehrer, Erzieherinnen und Eltern haben das Recht, die besten Methoden und eine adäquate Lernumgebung auszuwählen, damit die Medienerziehung genau auf die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder zugeschnitten wird.

ELIANT hat zu diesem Thema eine Vision entworfen, die auf den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, die aus Verhaltensforschung, Neurologie und Psychologie kommen. Diese Erkenntnisse spiegeln die notwendigen Schritte wider, damit sich Menschen von Geburt an gesund entwickeln. Es ist essentiell, diese Phasen in ein künftiges Bildungskonzept zu integrieren, so dass Kinder in die Lage versetzt werden, ein Optimum an sozialer, emotionaler, kognitiver und spiritueller Gesundheit zu erreichen. (1; Fußnoten siehe PDF)

Frühe digitale Bildung

Die Erfahrungen in der frühen Kindheit sind entscheidend für die Entwicklung im späteren Leben. Der technologische Fortschritt durchdringt alle Lebensbereiche und macht auch vor Kindern und Kleinkindern nicht halt. Unabhängige Forschung hat in umfassender Weise Effekte für die kindliche Entwicklung aufgezeigt, die den oft behaupteten Nutzen elektronischer Geräte für die Bildung in Frage stellen. (2)

Reifungsprozesse im Gehirn

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns weist in den ersten Jahren des Lebens die stärkste Intensität auf. Die weiteren Entwicklungsschritte hängen von diesen frühen Erfahrungen ab. In den ersten Lebensjahren braucht das reifende Gehirn vor allem die ganzkörperliche Betätigung und den Gebrauch aller Sinne, um in den verschiedenen natürlichen (analogen!) Umgebungen aktiv sein zu können. Durch diese ganzkörperliche sensomotorische Integrationsarbeit übt das Gehirn, seine komplexe Verarbeitungs-fähigkeit und zwar auf der Informations-, Kontroll- und Kommandoebene. Nur so kann das Kind in umfassender Weise lernen, sein Gehirn zur Orientierung in der Umwelt und mit Bezug auf den eigenen Körper zu nutzen.

Dieses Erforschen der realen Umgebung während der ersten Jahre ist wichtig, weil es den Kindern die Möglichkeit gibt, sich gesund im Raum- und Zeitkontext zu verankern. Ohne wiederholtes intensives Üben und das Verknüpfen kognitiver Erfahrungen mit koordinierten körperlichen Handlungsweisen ist dies nicht möglich . (3)

In ähnlicher Weise ist eine reale Interaktion zwischen Menschen erforderlich, wenn das Vorderhirn reifen soll. Es ist der Sitz der exekutiven Funktionen, die unser Leben kontrollieren. Seine Entwicklung ist Grundlage für unser Denk- und Erinnerungsvermögen; es gibt dem Menschen die Möglichkeit, rational zu handeln. Fundamentale Voraussetzung dafür ist wiederum die Art der Betätigung in den ersten Lebensjahren – das Kind wird selbst aktiv sein in Nachahmung und eigenständiger Erforschung seiner realweltlichen Umgebung.
Die Nervenzellen im Gehirn eines kleinen Kindes sind sehr sensitiv, was es möglich macht, viel stärker als ein Erwachsener Sinneseindrücke aufzunehmen und zu speichern. Doch nicht alle Sinnesreize sind nützlich! (4; 5) Aktuelle Forschung lenkt den Blick auf das Risiko neuronaler Hyperaktivierung, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Vorderhirns haben kann.6 Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Technologie und der Aktivierung des Belohnungssystems im Gehirn. Werden Bildschirm-Medien vor der vollständigen Gehirnreife ausgiebig genutzt, kann die Balance zwischen dem Bedürfnis nach Belohnungen und einem gesunden Selbstvertrauen erschüttert werden. Auf diese Weise steigt das Risiko, von solcher Technologie abhängig zu werden. (7)

Kognitive Fähigkeiten

Die Face-to-Face-Kommunikation mit anderen Menschen stellt eine entscheidende Grundlage dar, damit sich komplexe kognitive Fähigkeiten entwickeln, wie etwa Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben. Es hat sich herausgestellt, dass digitale Medien weitgehend nicht in der Lage sind, solche Kompetenzen zu fördern; in einigen Fällen zeigten sich unter ihrem Einfluss sogar Verzögerungen in der Sprachentwicklung. Im Kontext formaler Lernprozesse zeigten sich keine positiven Ergebnisse, wie es zum Beispiel die PISA-Berichterstattung dokumentiert. (8) Kognitive Fähigkeiten sind in einem hohen Maß davon abhängig, wie gesund die Umgebung für die Gehirnentwicklung ist. Die emotionale und soziale Intelligenz hingegen braucht zu ihrer Entwicklung die unmittelbare Auseinandersetzung mit anderen Menschen.

Die sozialen Kompetenzen eines Kindes entwickeln sich früh im Leben – durch die verbale und non-verbale Kommunikation mit Eltern, Erzieherinnen und Lehrern. Um stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, ist es unerlässlich zu lernen, die Emotionen anderer zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Entwicklungspsychologie betont dabei die Bedeutung der unmittelbaren Interaktion zwischen Bezugsperson und Kleinkind, das auf diese Weise lernt, die Eltern zu beobachten und auf deren Handlungen passend zu reagieren.

Der englische Begriff „technoference“ (9) (technische Interferenz) steht für das heutige Phänomen, dass technische Geräte täglich mehrfach die oben genannte Interaktion unterbrechen. Unsere Fixierung auf Bildschirm-Technologie im Alltag gerät in Konflikt mit zwischenmenschlichen Beziehungen und reduziert häufig für kleine Kinder die Gelegenheiten, etwas über die Welt zu lernen. Studien zeigen auch, je weniger kleine Kinder digitale Medien nutzen, desto besser sind sie in der Lage, unterschiedliche menschliche Emotionen wahrzunehmen und zu verstehen.(10)

Verhalten

Aktuelle unabhängige Forschung auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie rückt das Problem der „sofortigen Belohnung“ („instant gratification“) in den Mittelpunkt. Diese Form der Belohnung ist direkt verbunden mit digitalen Medien, wie sie kleine Kinder nutzen. Kinder lernen die Regulation ihrer Gefühle, indem sie sich in kleinen Projekten engagieren, sich selbst Ziele setzen und diese Schritt für Schritt erreichen. Heute verspricht den Kindern der ständige Zugriff auf digitale Unterhaltung, dass sie jederzeit eine „sofortige Belohnung“ erhalten können. Diese Möglichkeit zerstört für Kinder die Notwendigkeit, sich aktiv Anerkennung zu erarbeiten.

Außerdem werden Kinder dabei beeinträchtigt, Geduld, Willenskraft und Selbstbeherr-schung zu entwickeln. Mit dem Phänomen des Belohnungsaufschubs müssen sich viele Kinder nicht mehr auseinandersetzen, was verhindert, dass sie entsprechende Bewältigungsstrategien einüben. Stattdessen nähren diese Technologien die Erwartung, dass jedes Bedürfnis sofort gestillt wird. Geschieht das nicht, tauchen überwältigende Gefühle des Ärgers, der Frustration und Traurigkeit auf – großes Leid für Kind und Eltern, sowie eine starke Belastung für deren gesunde Beziehung. (11)

Fazit

Echte Kommunikation zwischen Menschen und die Verwurzelung in der Realität lassen sich nicht ersetzen durch digitale Technologie, egal wie ausgefeilt moderne Soft- und Hardware sein mag. Um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, braucht jedes Kind intensive Begleitung durch Erwachsene. Nur auf diese Weise können seine körperlichen, kognitiven und seelischen Fähigkeiten eine optimale Reifung erreichen.

ELIANT fordert eine breite interdisziplinäre Forschung zu denen hier aufgezeigten Tatbeständen. Die Frage ist: Wie kann ein gesunde Entwicklung im Bildungsprozess gestaltet werden? Auf dieser Basis sollte die Bildungspolitik solche Resultate zur Kenntnis nehmen. Und: Eltern sollten in der Lage sein, sich für eine Form der Medienerziehung zu entscheiden, die dem Alter der Kinder entspricht und auf deren Entwicklungsbedürfnisse zugeschnitten ist.

Dieses Ziel lässt sich am besten erreichen, wenn folgende Forderungen erfüllt werden:

  1. Ein unabhängiges, evidenzbasiertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm ist aufzulegen. Dazu zählt eine Längsschnittstudie über einen größeren Zeitraum, um den Einfluss digitaler Technologie auf die gesundheitliche Entwicklung der Kinder zu untersuchen. Ebenso ist die Rolle zu prüfen, die Bildung spielen kann, um eine förderliche Umgebung für eine gesunde Entwicklung in der Kindheit aufzubauen.
  2. Es ist eine EU-weite Kampagne ins Leben zu rufen, die Eltern, Schulen und Lehrer darüber informiert, wie Bildschirm-Technologie die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern beeinflusst.
  3. Eltern, Lehrer und Erzieherinnen ist das Recht zuzusichern, dass sie frei zwischen verschiedenen pädagogischen Ansätzen wählen können. Diese Ansätze müssen leicht zugänglich und finanzierbar sein. Dazu hat auch eine bildschirmfreie Option für Kindergärten und Grundschulen zu gehören, so lange die Schüler am Ende der Schulzeit ihre Lernziele erreichen, die als verpflichtender Bildungskanon vorgeschrieben sind.
  4. Es ist ein dauerhafter Dialog mit Stakeholdern einzurichten, inklusive mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um eine geeignete Politik zu entwerfen und durchzusetzen.
  5. Die Ziele einer Bildungspolitik sind so zu entwickeln, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit im Mittelpunkt steht, und potenzielle gesundheitliche Risiken für jedes Kind ausgeschlossen werden. Diese Vermeidung von Risiken sollte im Sinne des Vorsorgeprinzips allgemein anerkannt werden, so wie es im Artikel 191 des EU-Vertrags geregelt ist.

Für die Allianz ELIANT
Dr. med. Michaela Glöckler (Präsidentin)

(Fußnoten siehe PDF-Datei).
Der Text als PDF: 01 Eliant Positionspapier

01 M. Glöckler: Eliant-Positionspapier zur Medienerziehung
02 Teuchert-Noodt: Erziehung zur Medienmündigkeit
03 Lankau: Humaner Einsatz von IT in der Bildung
04: Lankau: Humanismus vs. Data-Ismus

Weitere Informationen

Eliant-Website: eliant.eu, Online-Petition: Wahlmöglichkeiten in Gefahr!