Humanismus vs. Data-Ismus

Vier Perspektiven – eine Botschaft für die Bildungspolitik

4. Perspektive: Gesellschaftliche Dimensionen

Viele reden von Digitalisierung und sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ (sKI) als entscheidenden Zukunftsfaktoren. Nur wenige wissen, was sich konkret an technischen Systemen dahinter verbirgt. Nur selten werden die wirtschaftlichen Interessen klar benannt und warum Digitaltechnik und Netzdienste flächendeckend installiert werden sollen. Das Ziel ist, Nutzerdaten zu sammeln und auszuwerten. Selten werden die Konsequenzen klar ausgesprochen, die diese Systeme für jeden Einzelnen haben (können): kleinteilige Verhaltenskontrolle und, per Smartphone, Web und App, Ökonomisierung auch des Privaten.

Dabei sind die Fakten bekannt: Die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt – die Big Five des Web: Alphabet/Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft – sind so wertvoll nur durch Nutzerdaten und das Versprechen, noch mehr Nutzerdaten sammeln und auswerten zu können. Die Werkzeuge dafür sind Big Data und die sog. „Künstliche Intelligenz“ (sKI). Diese „künstlichen Intelligenzen“ dienen, wie die Kybernetik als Mess- und Regelungstechnik, vor allem zur Automatisierung von Prozessen und ist im Wesentlichen eine automatisierte Datenverarbeitung.

Im Netz dienen automatisierte Methoden dazu, (Verhaltens-)Muster zu erkennen und z.B. menschliches Verhalten zu prognostizieren. Aber es sind und bleiben (z.T. sehr komplexe) Rechenmodelle. Die Microsoft-Deutschland-Chefin Sabine Bendiek formuliert es für die FAZ so: „Eine KI kann viele Dinge ganz toll, aber letztlich rechnet sie auf Basis von großen Datenmengen.“ (Armbruster 2019)

Gleichwohl sind die zu erwartenden Folgen der „Digitalisierung aller Lebensbereiche“ gar nicht zu überschätzen. Alles wird verdatet, in Big-Data-Rechennetzen gesammelt und mit Methoden des Data Analytics ausgewertet, um mit Hilfe dieser Daten und Muster das Verhalten der Menschen zu steuern. Der Einzelne wird zum Datensatz. Je früher Daten von Menschen gesammelt werden können, desto besser.

Daher sind KiTas und Schulen so wichtig für die Datensammler. Kinder und Jugendliche sind begeisterungsfähig, nutzen neue Techniken problemlos und unreflektiert und haben noch lange Konsumbiografien. Die Gretchen-Frage der IT heißt daher schlicht: Wie hältst Du es mit den Daten? Für Nutzer/innen lautet die Frage schlicht: Bleibt der Mensch als Individuum, Persönlichkeit und autonomes Subjekt das Ideal freier Gesellschaften oder wird er zum Datenlieferanten eines zu perfektionierenden Datenverarbeitungssystems, wie es die Daten-Ökonomie und Verfechter des Data-Ismus (Harari 2017) verlangen? Für Dataisten ist klar:

„Menschen sind lediglich Instrumente, um das Internet der Dinge zu schaffen, das sich letztlich vom Planeten Erde aus auf die gesamte Galaxie und sogar das gesamte Universum ausbreiten könnte. Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott. Es wird überall sein und alles kontrollieren, und die Menschen sind dazu verdammt, darin aufzugehen.“ (Harari, 2017, 515)

Deutschland und Europa hingegen haben dabei die Wahl. Sie können demokratische und soziale Gesellschaften bleiben oder sich den Bedingungen der Daten-Ökonomie unterordnen.

Zwei Systeme stehen zur Wahl:

  1. Das US-amerikanische System des digitalen Überwachungskapitalismus (Zuboff, 2018) aus dem Silicon Valley steuert die Nutzer mit Techniken aus der Werbepsychologie (persuasive technolgies*), um die Umsätze der Big Five der IT zu optimieren. Die Parameter dieser Daten-Ökonomie: neoliberal, marktradikal und a-sozial, da die Nutzer/innen an ihren Bildschirmen und Displays sozial isoliert werden (Twenge 2016) Das Ziel ist die Maximierung der Nutzerzeiten, in der Werbung geschaltet und verkauft werden kann.
  2. Das zweite System ist das staatstotalitäre chinesische Überwachungsnetz. Alle Bürger werden komplett überwacht, der Staat hat Zugriff auf alle privaten Geräte und hat ein Sozialpunktesystems (Citizen Scoring) eingeführt. Erwünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes Handeln sanktioniert. Abhängig vom Punktestand bekommt man besser oder schlechter bezahlte Arbeit, gute, schlechte oder gar keine Schul- und Studienplätze für die Kinder usw. Selbst die medizinische Betreuung wird nach Punktestand gewährt oder verweigert.

Da beide Optionen – sowohl der neoliberal und martkradikale Valley-Kapitalismus wie der chinesische Staatstotalitarismus – keine Option sind, müssen Deutschland und Europa einen dritten Weg gehen. Der bleibt nicht stehen bei zusätzlichen Datenschutz-verordnungen und vermeintliche Sicherungsoptionen, wie es die IT-Wirtschaft propagiert, sondern stellt die Datensammelwut generell in Frage. Datenreduktion und -minimierung muss das Ziel sein, nicht Datenmaximierung.

Konsequenz im Bildungskontext: Schülerdaten dürfen z.B. gar nicht gespeichert und ausgewertet werden, wie in den USA schon heute üblich. Empirie, Statistik und Mustererkennung als Basis kybernetischer Modelle der sKI können und dürfen generell nur der Ausgangspunkt für den Diskurs sein, nicht Automatismen. Der demokratische und interpersonale Diskurs ist die Basis für Entscheidungen, nicht Daten. Dafür gilt es im „Zeitalter von Überwachungskapitalismus“ und Daten-Ökonomie einzutreten. Daher schreibt Spiekermann 2018:
„Jeder, der mit KI und Daten gearbeitet hat, weiß, dass die Daten nicht vollständig, dass sie oft falsch, dass sie selektiv sind und dass sie über Kontexte hinweg verbunden und verfremdet werden. Künstliche Intelligenzen machen die absurdesten Klassifikationsfehler. Wenn man mit diesen Fehlern weiterrechnet, entsteht noch mehr Unsinn.“

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau (Bündnis für humane Bildung)

01 M. Glöckler: Eliant-Positionspapier zur Medienerziehung
02 Teuchert-Noodt: Erziehung zur Medienmündigkeit
03 Lankau: Humaner Einsatz von IT in der Bildung
04: Lankau: Humanismus vs. Data-Ismus

Literatur

Armbruster, Alexander (2019) Nicht jeder muss ein Informatiker sein, Interview mit Microsoft-Deutschland-Chefin Sabine Bendiek, FAZ v. 01.04.2019; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/microsoft-deutschland-chefin-sabine-bendiek-im-interview-16117321.html (06.04.2019)

Fogg, B.J. (2003) Persuasive Technology: Using Computers to Change What We Think and Do. San Francisco: Morgan Kaufmann

Gigerenzer, Gerd; Rebitschek, Felix G.; Wagner, Gert G. (2018) Eine vermessene Gesellschaft braucht Transparenz, in: Wirtschaftsdienst 2018/12, S. 860-868; DOI: 10.1007/s10273-018-2378-4

Harari, Yuval Noah (2017) Homo Deus, München: C.H. Beck

Lankau, Ralf (201 7) Kein Mensch lernt digital. Weinheim: Beltz

Spiekermann, Sarah (2018) Big Data Illusion, FAZ v. 25.4.2018, S. 13; . http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/was-die-konzerne-mit-unsere-daten-machen-15558098.html (06.04.2019)

Twenge, Jean (2016) How Smartphones destroyed a Generation

Zuboff, Shoshana (2018) Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt: Campus

* Persuasive Technologies („überzeugende“ Technologien) verändern mit Hilfe von Computertechnologie die Einstellungen und das Verhalten von Personen. Werden persuasive Technologien zu Werbezwecken genutzt, spricht man von „persuasive advertising“.

Der Text als PDF: 04 Lankau: Humanismus