Humaner Einsatz von IT in der Bildung

Vier Perspektiven – eine Botschaft für die Bildungspolitik

3. Perspektive: Schule ohne digitale Überwachung

Digital-Agenda, Digitalgipfel, Digitalpakte, Smart City und Smart School, Deutschland ist im Digitalfieber. So fordern auch die Kultus- und Schulminister/innen im „Digitalpakt Schule“, dass alle Schulen und Lehrkräfte – unabhängig vom Alter der Schülerinnen und Schüler, unabhängig von der Schulform und unabhängig von den konkreten Fachinhalten – digitale Geräte und Techniken einsetzen sollen. Derart undifferenziert ist Medientechnik weder fachlich noch pädagogisch zu begründen.

Statt einem demokratischen und humanistischen Bildungsverständnis, bei dem das Individuum und das gemeinsame Lernen im Mittelpunkt stehen, definieren Bundesregierung und IT-Industrie mit „Digitalpakt#D“ und „Digitalpakt Schule“ eine zunehmend vollautomatisierte, digital gesteuerte „Lernfabrik 4.0“. Unterricht im Klassenverband findet nicht mehr statt. Kinder sitzen mit Kopfhörer vor Monitoren an Lernstationen und werden durch Computerprogramme und Sprachsysteme automatisiert beschult. Lehrkräfte werden zu Lernbegleitern und Sozialcoaches degradiert.

Diese Konzepte kommen nicht aus der Pädagogik, sondern aus der Kybernetik und dem Behaviorismus. In Verbindung mit Methoden des Total Quality Managements (TQM) und der empirischen Bildungsforschung wird Lernen zu einem mess- und steuerbaren Prozess umgedeutet. Dabei wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Denn Bildung ist immer und notwendig an Personen und an ein lebendiges Bewusstsein gebunden, nicht an Medien(technik). Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der sich weder technisieren noch digitalisieren lässt, wenn darunter mehr verstanden wird als automatisiert abprüfbare „Kompetenzen“.

Die Bildungspolitik muss sich daher von der einseitigen Fixierung auf Digitaltechnik als vermeintliche Heilslehre lösen und sich wieder den Menschen und ihren Lern- und Bildungsprozessen mit allen Sinnen und allen Medien zuwenden. Bildungsauftrag und Erziehungsziel von Schulen sind selbstbestimmte Persönlichkeiten, die durch ihr Reflexionsvermögen und kritische Urteilsfähigkeit gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich mitgestalten können, damit auch die kommenden Generationen eine humane und demokratische Zukunft haben.

Dazu hat das Bündnis für humane Bildung für das Projekt „aufwach(s)en mit digitalen Medien“ die folgenden Positionen formuliert.

Autonomie des Menschen vs. autonome Systeme

Kommen neue Technologien auf den Markt und erschließen sich dadurch neue Geschäftsfelder, profitieren zunächst die Rücksichtslosen, bevor rechtliche und soziale Strukturen greifen. Das galt für den Manchesterkapitalismus, das gilt heute für den Digitalkapitalismus aus dem Silicon Valley. Dabei ist es nicht „die Digitalisierung“, die Geschäftsfelder sucht und sich ausbreitet. Es sind ganz konkrete Konzerne wie Apple, Google oder Microsoft und Dienstleister wie die Telekom, die ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen wollen und dafür Digitaltechnik in die Schulen drückt. Das galt für die PCs in den 1980er Jahre, das galt für die Laptops in den 1990ern, das gilt heute für Tablets und Smartphones. Unterstützt werden sie dabei von Wirtschaftsverbänden und IT-Lobbygruppen wie BitKom, die immer mehr Digitaltechnik an Schulen sowie Informatik und Wirtschaft als Fächer fordern. In Frage steht daher (wieder einmal), wer über Medientechnik und Lehrinhalte an öffentlichen Schulen bestimmt. In Frage steht (wieder einmal), ob Schulen allgemeinbildende Schulen bleiben oder eine Vorstufe der (Berufs-)Ausbildung werden. In Frage steht nicht zuletzt, ob und ggf. wie sich Märkte für digitale Angebote sozialverträglich und zum Nutzen der Menschen (statt der IT-Konzerne) umformen lassen und wie diese notwendige Regulierung des Web zu gestalten ist. Dafür sind hier erste Thesen und Alternativen formuliert, die zeigen, wie sich Netztechnologien zum Nutzen und Wohl der Allgemeinheit einsetzen lassen.

 Thesen und Forderungen für eine Schule ohne Überwachung

  1. Die Daten-Ökonomie etabliert eine Überwachungsstruktur
    Daten-Ökonomie und digitaler Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) aus dem Silicon Valley bestimmen heute das Web. Sie basieren auf immer mehr personenbezogen Daten jedes Einzelnen. Mobile Geräte und Kameras oder Sensoren im privaten wie im öffentlichen Raum (Internet of Things, IoT) ermöglichen es, den Menschen mit seinem Verhalten nahezu vollständig aufzuzeichnen und auszuwerten. Er wird zum unfreiwilligen Datenspender für Big Data und die Datenanalyse weniger IT-Monopole. In Schulen funktioniert das über Tablets, Smartphones, Netzdienste und die (Bundes-)Schulcloud.
  2.  Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile als Produkt
    Der permanente Rückkanal für personenbezogene Daten etabliert immer umfangreichere Mess- und Kontrollstrukturen in allen Lebensbereichen. Daraus entstehen immer exaktere Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile. Diese Profile ermöglichen es, das Nutzerverhalten zu prognostizieren und Nutzer – mit persuasiven Technologien* der Werbe-Psychologie – in ihrem Verhalten zu beeinflussen. In Schulen ist das Instrument dafür Learning Analytics, das Aufzeichnen und Auswerten des Arbeitens am Smartphone, Tablet, Laptop oder PC von Schüler/innen.
  3. Rechtsnormen für das Web statt rechtsfreier Raum
    Freie, demokratische und soziale Gesellschaften bleiben nur dann freie, demokratische und soziale Gemeinschaften, wenn sie andere IT- und Netzkonzepte entwickeln anstatt neoliberale und marktradikale Strukturen zu übernehmen. Auch Infrastruktur- und Kommunikationssysteme unterliegen in Rechtsstaaten dem geltenden Recht, dass sich für Netzanwendungen erst entwickeln muss. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, der europaweit gültigen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und dem europäischen Urheberrecht sind erste Grundpfeiler eingeschlagen, um das vermeintlich „rechtsfreie“ Internet und Web zu zivilisieren. Für Schulen und Bildungseinrichtungen mit z.T. minderjährigen Schutzbefohlenen (das sind Schülerinnen und Schüler juristisch) sind besonders strenge Regeln festzulegen und einzuhalten.
  4. Transparenz der Algorithmen statt Transparenz der Schüler/innen.
    Statt permanenter Datenmaximierung nach der Logik der IT-Konzerne müssen Datenschutz, Datenvermeidung und Datenreduktion zu den obersten Geboten der neuen Datenwirtschaft werden. Eine zentrale Rechtsgrundlage muss die verpflichtende und vollständige Transparenz der eingesetzten Algorithmen werden. (Gigerenzer 2018) Dazu zählen als weitere Prämissen Datensparsamkeit, Dezentralisierung der technischen Infrastruktur (statt Zentralisierung in Server-Farmen), freier Zugriff der Nutzer auf ihre und generelle Löschpflicht für alle nicht (mehr) benötigten Daten.
  5. Datensparsamkeit und Datenhoheit bei den Nutzern
    Personenbezogene Daten dürfen nur mit ausdrücklichen Genehmigung der Nutzer genutzt und kommerzialisiert werden. Die Nutzer müssen an den mit diesen Daten generierten Umsätzen beteiligt werden. Daten schutzbefohlener Minderjähriger (Kinder, Jugendliche) dürfen weder für die Profilierung noch zur Kommerzialisierung genutzt werden. Gleiches gilt für Gesundheitsdaten, die ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke in klar definierten Umgebungen und für konkrete Forschungsfragen genutzt werden dürfen.
  6. Digitaltechnik an Schulen nur lokal und ohne Rückkanal ins Netz
    Digitaltechnik in Schulen wird nur lokal (Intranet, Edge Computing) und nur zur Unterstützung der Lehrenden beim Unterrichten in den Präsenzlehrphasen bzw. für Lernende bei Gruppenarbeiten und/oder in Selbstlernphasen eingesetzt. Dabei werden weder Schülerdaten gesammelt noch werden Lern- oder Persönlichkeitsprofile erstellt. Keine Daten gehen ins Netz.
  7. IT neu denken, als Kinder- und Bürgerschutz
    Wenn wir das Web weiter nutzen wollen, müssen wir IT neu denken, vor allem an Bildungseinrichtungen mit Kindern und Jugendlichen. Denn aus dem Versprechen eines freien Netzes und hierarchiefreier Kommunikation ist ein Überwachungs- und Konsuminstrument zum Nutzen weniger IT-Konzerne und staatlicher Überwachungsorgane geworden. Das kommerzielle Netz wird von Fake News, Spam und Gewalt dominiert. Die Utopie eines unreguliertes Netzes in eigener Verantwortung der Nutzer hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Arbeiten wir an einer tragfähigen Alternative auf rechtsstaatlicher Basis.
  8. Argument und Diskurs statt Datengläubigkeit
    Eine freie und reflektierende Gesellschaft weiß, dass Daten immer nur der Ausgangspunkt und die Grundlage für Diskussionen und Entscheidungen sein können, alleine, ohne Kontext und Vorverständnis, nicht aussagekräftig sind. Daher muss die Daten- wie die Digitalgläubigkeit aufgebrochen, der interpersonale Diskurs und die Kontoverse wieder in ihr Entscheidungsrecht eingesetzt werden. Denn wer datengläubig Maschinen entscheiden lässt, was Menschen tun oder lernen oder wünschen sollen, zerstört die Autonomie des Menschen und seine Handlungsfreiheit zugunsten eines algorithmisch berechneten Regimes autoritärer technischer Systeme und technischer Willkür.
  9. Autonomie des Menschen statt autonome Systeme
    Technologische Systeme zur automatisierten (algorithmisch berechneten) Verhaltensmanipulation verstoßen gegen die Würde des Menschen, seine Grundrechte und Selbstbestimmung. Sie sind in demokratischen und humanen Rechtsstaaten untersagt.
  10. Elektrosmog durch WLAN
    Die Gesundheitsschädlichkeit von Mikrowellenstrahlung (WLAN) ist durch drei große Übersichtsstudien belegt. Im Februar 2018 erschien der Review „Biologische und pathologische Wirkungen der Strahlung von 2,45 GHz auf Zellen, Kognition und Verhalten“ von Isabel Wilke. Diese bisher größte Überblickstudie zu WLAN dokumen-tiert mehr als 100 Studien, die die Gesundheitsschädlichkeit der Trägerfrequenz 2,45 GHz und ihrer gepulsten Variante WLAN untermauern. Eine Studie mit fast 700 Jugendlichen aus der Schweiz ergab, dass die kumulative Hirn-HF-EMF-Exposition (1) durch Mobiltelefone über ein Jahr hinweg einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der figuralen Gedächtnisleistung bei Jugendlichen haben kann. (2) Selbst die Telekom warnt vor der Strahlenbelastung durch ihre Router: „Funksignale: Die integrierten Antennen Ihres Speedport senden und empfangen Funksignale bspw. für die Bereitstellung Ihres WLAN. Vermeiden Sie das Aufstellen Ihres Speedport in unmittelbarer Nähe zu Schlaf-, Kinder- und Aufenthaltsräumen, um die Belastung durch elektromagnetische Felder so gering wie möglich zu halten.“ (3) Das sollte auch für Klassenzimmer gelten. Da es mit kabelgebundenem Netzzugang Alternativen gibt, sollte man auf WLAN in Schulen verzichten.

Prof. Dr. Ralf Lankau (Bündnis für humane Bildung)

Der Text als PDF: 03 Lankau: Schule ohne Überwachung

01 M. Glöckler: Eliant-Positionspapier zur Medienerziehung
02 Teuchert-Noodt: Erziehung zur Medienmündigkeit
03 Lankau: Humaner Einsatz von IT in der Bildung
04: Lankau: Humanismus vs. Data-Ismus

1) HF-EMF: Hochfrequente elektromagnetische Felder, siehe: Mögliche gesundheitliche Auswirkungen elektromagnetischer Felder (HF-EMF). Büro für Technikfolgeabschätzung beim Deutschen Bundestag, http://www.tab-beim-bundestag.de/de/gutachter/g30300.html
2) Foerster et.al, 2018
3)Bedienungsanleitung Speedport Smart, Telekom, 2017, S. 2