Analoge Schule ist unverzichtbar

Offener Brief zur Notwendigkeit analoger Schulen

Die Corona-Krise bringt es an den Tag:
Nicht digitaler, sondern analoger Unterricht ist das Grundmodell von Schule

Der Virus, der gerade unser öffentliches Leben lahmlegt, veranlasst etliche Befürworter einer umfassenden Digitalisierung des Unterrichts zu einer lautstarken Werbeaktion: Jetzt zeige sich, dass nur digitalisierter Unterricht in der Lage sei, mit Krisen wie der gegenwärtigen eher zurechtzukommen. Zweifellos: um Schüler mit Aufgaben zu versorgen oder virtuelle Klassenzimmer online zu besuchen, braucht man Digitaltechnik. Die Defizite jedoch, die eine derartige Notversorgung mit Unterricht mit sich bringen, treten mit jeder Woche, die die Schulen weiter geschlossen bleiben, immer deutlicher zu Tage.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die allermeisten SchülerInnen froh sein dürften, wenn sie sich und auch die meisten Lehrer endlich persönlich in analogen Klassenzimmern wiedersehen werden. Auch das Ansehen der Lehrer dürfte bei den Eltern deutlich gestiegen sein. Keine Technik und keine Methode kann das ersetzen, was schon immer den Kern guten Unterrichts ausgemacht hat: das leibhaftige Kooperieren von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Klassenzimmern beim Lernen, Reflektieren und Erobern neuer Wissenshorizonte.

Der Mensch ist ein soziales Wesen – nichts kann die lebendige Begegnung von Lehrern und Schülern ersetzen. Mag sein, dass ein früher ins Leben gerufener Digitalpakt die Notversorgung der Schüler mit Lernmaterialien erleichtert hätte. Sicher ist: Als Grundmodell ist die digitale Schule ungeeignet, zielt sie doch auf das ab, was in Zeiten der Coronakrise gezwungenermaßen zur Anwendung kommt: auf eine Auflösung des Klassenverbands sowie der vitalen Lehrer-Schüler-Beziehung.

Gleichzeitig kommt es zu einer überzogenen, nicht altersgerechten Individualisierung des Lernens. Dem Lehrer wird im wahrsten Sinne des Wortes „das Heft aus der Hand genommen“. Er wird zum fernen Lernbegleiter oder zum reinen Aufgabenlieferanten degradiert, denn die eigentlichen Lernbegleiter sind derzeit die Eltern, wenn sie das überhaupt leisten können.

In der Psychotherapie ist der einzige Wirkfaktor die Beziehung zwischen dem Therapeuten und Klienten. So zählt auch in der Schule vor allem die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Jeder Schüler reift in seiner Persönlichkeit besonders durch die Beziehung zum Lehrer und durch dessen Feedback. Aus einer vertrauensvollen und verlässlichen Beziehung zum Lehrer gewinnt der Schüler naturgemäß einen Großteil seiner Lernmotivation und Anstrengungsbereitschaft.

Digitaltechnik eignet sich ausschließlich und durchaus erfolgreich als Ergänzung des analogen Unterrichts, zu mehr aber auch nicht. Jedes pädagogische Medienkonzept muss daher zwingend die folgenden Aspekte berücksichtigen:

  • Vergessen wir nicht über der Einübung digitaler Kompetenzen, analoge Lernformen zu pflegen, die grundsätzlich an erster Stelle stehen sollten.
  • Digitaltechnik darf als Werkzeug gezielt und reflektiert eingesetzt werden, sollte aber niemals die Schüler-Lehrer-Beziehung schwächen oder sogar ersetzen.
  • Passen wir die Nutzung der eingesetzten Digitaltechnik an die Altersentwicklung und Hirnreifung unserer Kinder an! So sorgen wir in der Schule (wie auch zuhause) für digitalfreie Zeitfenster, entsprechend der jeweiligen Altersgruppe.
  • Sehen wir uns vor, dass die Schuletats nicht durch Folgekosten der Digitaltechnik jeglichen Gestaltungsspielraum verlieren.
  • Stärken wir die Lehrer in ihrem professionellen Selbstverständnis und in ihrer Fähigkeit, die passenden Medien für ihre Schüler selbst auszuwählen und sinnvoll einzusetzen. Stärken wir sie darin, mutige und authentische Beziehungsgestalter zu sein.
  • Um Missbrauch und Entwendung sensibler Schülerdaten zu verhindern, ist in der Regel Offlinetechnik dem ständigen Arbeiten im World Wide Web vorzuziehen.
  • Auch Datennetze können zusammenbrechen – z. B. durch den Befall mit Viren der anderen Art. Sollten wir nicht vorsorgen, indem wir wenigstens die gute alte Tafel an den Wänden hängen lassen?

Last but not least: Wir müssen mit der heranwachsenden Generation in einen intensiven Austausch treten – über die schleichende Verbreitung eines Menschenbildes, in dem der Mensch von außen (fern-)gesteuert über immer weniger Autonomie verfügt. Das bedeutet: Es schwindet seine Fähigkeit, selbstständig zu denken. Die Folgen wären für unsere Demokratie verheerend.

Gottfried Böhme (Buchautor, Der gesteuerte Mensch?)
Uwe Büsching (Vorstandsvorsitzender Stiftung „Kind und Jugend“)
Matthias Burchardt (Bildungsphilosoph)
Folke Hartwig (Ärztliche Psychotherapeutin)
Peter Hensinger (Bündnis für humane Bildung)
Ralf Lankau (Bündnis für humane Bildung)
Ingo Leipner (Bündnis für humane Bildung)
Herbert Renz-Polster (Kinderarzt)
Sybille Schmitz (Beraterin für frühkindliche Bildung)
Manfred Spitzer (Psychiater)
Christoph Türcke (Philosoph)
Elke Urban (eh. Leiterin des Schulmuseums Leipzig)

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie die Überlegungen dieses Aufrufs weitgehend teilen, dann sorgen Sie bitte dafür, dass er sich verbreitet. Schicken Sie ihn an Eltern, Lehrer, Politiker, Freunde, Bürger…

Offener Brief als PDF:
Offener Brief Analoge Schule ist unverzichtbar (April 2020)

Es gibt dazu bei Open-Petition eine Unterschriftenliste, wenn Sie selbst unterschreiben möchten: Analoge Schule ist unverzichtbar!

So wäre für dieses Mal dafür gesorgt, dass durch Digitaltechnik Informationen verbreitet werden, die das humanistische Menschenbild unserer Gesellschaft in Erinnerung rufen und stärken: Menschen sind soziale Wesen, die aus der Verbundenheit zu anderen Menschen heraus psychisch reifen und ihr individuelles Potential entfalten können.