Handys und Tablets setzen die Intelligenz bei Kindern herab!

Die Hirnforscherin Gertraud Teuchert Noodt über die Erkenntnisse der Neurowissenschaft, die Versäumnisse der Pädagogik und die Gefahren für die Psyche der Kinder und für die Gesellschaft.Interview mit der Neuen Westfälischen am 11.03.2020.

Die Schulen sind wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Lehrer sollen über „Fernwartung“ unterrichten, Eltern daheim als Hilfslehrer arbeiten. Die Industrie wittert die Chance, damit die Digitalisierung des Unterrichts beschleunigen zu können. Es ist aber auch eine ganz andere große Chance: Man wird jetzt sehen, welche große Bedeutung der analoge Unterricht hat, die Schulklasse, die soziale und pädagogische Atmosphäre, der empathische, motivierende und erklärende Lehrer. Es besteht dennoch eine große Gefahr: Die Kinder können nicht aus dem Haus und sitzen den ganzen Tag vor den digitalen Medien, und entkommen ihrem Sog nicht mehr. Die Telekom wittert die Chance, Kinder zu internetabhängigen Dauerkunden zu machen. In ganzseitigen Anzeigen lockt sie mit 10 GB Datenvolumen kostenlos im Monat und für 6 Monate Gratis- Nutzung des Streamingdienstes Disney+. Warum dieser v.a. für Kinder unwiderstehliche Sog in die Sucht besteht, welche Folgen das haben kann, erläutert die Hirnforscherin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt im Interview mit der Neuen Westfälischen am 11.03.2020.

Frau Teuchert-Noodt, was denken Sie, wenn Sie vom „Digitalpakt für die Schulen“ hören, den die Politik geschlossen hat?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Ich sage: Handys, Notebooks und Tablets haben in Schulen nichts zu suchen. Kinder können nur analog lernen. Nur dadurch werden die für die raum-zeitliche Knüpfung von Nervennetzen benötigten Synapsen im Gehirn geformt. Das muss verstanden werden – und das haben übrigens auch die Medizin-Nobelpreisträger von 2014 erkannt.

Sie sagen das als Hirnforscherin. Wie begründen Sie ihre Ablehnung von digitalen Medien für Kinder und Jugendliche?

TEUCHERT-NOODT: Kinder sind von Natur aus hochbegabt, etwas sofort in den Teil des Gehirns einzuprogrammieren, das unter anderem für unser Kurzzeitgedächtnis und vor allem für die Konditionierung verantwortlich ist. Dort speichern wir Menschen beispielsweise den Automatismus, den wir für das Autofahren brauchen. Wir konditionieren uns darauf. Bei Erwachsenen ist dabei aber zugleich ein weiterer Teil des Gehirns aktiv, ein zweites System, das uns dazu ermahnt, langsam und umsichtig zu fahren und uns strategisch die Lage bewerten lässt, in der wir uns befinden. Das geschieht im Stirnhirn, auch Oberstübchen genannt. Dieses System ist beim Kind noch nicht ausgebildet. Das bedeutet: Es gibt noch keine Regulierung. Das Fehlen dieses ausgereiften Stirnhirns führt zu fatalen Folgen in der Intelligenzentwicklung von Kindern, die digitale Medien nutzen.

» Das Oberstübchen kann so nicht ausreifen «

Das klingt einigermaßen dramatisch. Verstehe ich das richtig, dass Kinder und Jugendliche noch nicht in der Lage sind, regulierend und vernunftgesteuert auf Youtube, Facebook, Instagram und Google zu reagieren?

TEUCHERT-NOODT: Genauso ist es. Erst das ausgereifte Oberstübchen bringt die raum-zeitliche Verrechnung. Das ist der Erfolgsschlager von uns Menschen. Der Neandertaler hatte diese Fähigkeit, raum-zeitlich zu denken noch nicht so ausgereift. Erst der Jetzt-Mensch begann Geschichten zu schreiben und strategisch zu denken. Die Ausreifung dieses Teils des Gehirns – inklusive Langzeitgedächtnis und historisches Bewusstsein – hängt an der Zufuhr von Dopamin in der Entwicklungsphase des Kindes und auch noch des Jugendlichen. Das haben wir an der Bielefelder Universität herausgefunden.

Wo ist das Dopamin, wenn Kinder surfen und posten?

TEUCHERT-NOODT: Digitale Medien übererregen das kurzzeitgedächtnisbildende System, die Belohnungsschleife und den Bereich der Konditionierung. Das Oberstübchen kann deshalb nicht ausreifen, weil die Dopaminausschüttung für das Stirnhirn dann blockiert wird, wenn durch das Nutzen von digitalen Medien das Belohnungssystem im Hirn der Kinder überfordert wird. Es steht dann zu wenig Dopamin für die Ausreifung des Stirnhirns zur Verfügung. Das Stirnhirn und sein Arbeitsgedächtnis geraten deshalb nur in eine Art Notreifung.

Bis zu welchem Alter gilt das?

TEUCHERT-NOODT: Das Stirnhirn ist erst mit 18 bis 20 Jahren voll entwickelt.

Wie geschieht das?

TEUCHERT-NOODT: Pädagogen haben nichts anders zu leisten, als dieses Oberstübchen langsam begleitend auszubauen. Die Eltern auch. Ihre Aufgabe ist es, das Kind aus dieser reinen Konditionierungsschiene herauszuführen. Digitale Medien mit ihrem Algorithmus- System arbeiten komplett dagegen.

Was wäre zu tun?

TEUCHERT-NOODT: Wir brauchen dringend die Einführung eines Handy-Führerscheins ab 18 Jahren. Wegen der beschriebenen biologischen Tatsachen machen wir schließlich auch erst den Autoführerschein mit 18 Jahren. Weil erst dann beide Hirnareale voll arbeiten können. Würden Jugendliche mit 14 Jahren Auto fahren dürfen, gäbe es viele Unfälle mehr. Durch ihr unreifes Stirnhirn sind sie noch nicht in der Lage, die nötige raum-zeitliche Verrechnung zu leisten. Kinder können auch kaum vernünftig und strategisch mit den Belohnungssystem-Medien umgehen.

Lassen sich die Auswirkungen zu frühen Kontakts von Kindern mit Handys und Tablets reparieren?

TEUCHERT-NOODT: Nein, leider nicht. Deshalb entsteht gerade eine verlorene Generation,und ich finde es unverantwortlich, dass die Pädagogik bei der Digitalisierung voll mitzieht.

Warum tun sie das aus Ihrer Sicht?

TEUCHERT-NOODT: Weil sie keine Ahnung haben. Im Grunde ist das ganze Bildungssystem geschädigt, seitdem alles beschleunigt wird. Kinder können die Geschwindigkeit im Gehirn gar nicht vertragen. Die Pädagogik hat nicht hingehört, sie haben die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mit einbezogen, obwohl es diese seit 30 Jahren gibt. Das ist ein riesenhaftes Versäumnis.

Was sollte Pädagogik stattdessen leisten?

TEUCHERT-NOODT: Gute Pädagogik fordert das Stirnhirn immer wieder heraus, indem es die eigene Konditionierung hinterfragt und damit in den Griff bekommt, mit Vernunft und Verstand. Ihnen wird sicher entgegnet, dass das Leben eben schneller wird, spätestens seit Beginn der Industrialisierung. Das hat immer Ängste ausgelöst, man denke nur an die Eisenbahn, die auch kritisch gesehen wurde.

Was soll jetzt anders sein?

TEUCHERT-NOODT: Intuitiv wissen wir längst, dass Kinder Langsamkeit brauchen, dass sie beschaulich aufwachsen müssen. Dann sind sie hinterher viel klüger. Eine Kindheit ohne Medien ist der beste Start ins digitale Zeitalter. Schließlich hat das für Erwachsene  viele Vorteile gebracht. Wir sind reaktionsschneller geworden. Ich selbst möchte nicht auf E-Mails, Internet und Power Point verzichten müssen. Mehr aber auch nicht. Der Rest ist der, der auch Erwachsene früher in die Demenz rutschen lässt. Es geht darum, die Möglichkeiten gezielt einzusetzen, da sich die Netzverschaltung im Gehirn sonst schnell zurückbildet, auch bei Erwachsenen.

» …als ob sie dem Kind jeden Morgen ein Gläschen Alkohol geben«

Es stimmt also aus Sicht der Hirnforschung, dass etwa der Dauergebrauch eines Navigationsgeräts den Orientierungssinn schwächt, dass Googeln das Langzeitgedächtnis beeinträchtigt?

TEUCHERT-NOODT: Ja, so ist es. Das führt schleichend in eine Demenz.

Okay, Ihr Weg wäre eine radikale Umkehr von dem, was jetzt propagiert wird.

TEUCHERT-NOODT: Ja, so könnte Schaden verhindert werden. Durch das digitale Belohnungssystem werden unausweichlich auch Opiate im Gehirn hochgefahren. Das bedeutet: Lässt man Kinder daran, ist es, als ob sie dem Kind jeden Morgen ein Gläschen Alkohol geben. Denn das führt neben den bereits erwähnten Auswirkungen im Gehirn zur Sucht.

Weg mit digitalen Medien auch aus der Freizeit der Kinder?

TEUCHERT-NOODT: Wenn man verstanden hat, dass sie auf das Gehirn wie eine Droge wirken, ist klar: Es darf kein bisschen davon geben, wenn das Kind intelligent werden soll. Deshalb ist ganz ohne am besten. Sonst verharrt das Stirnhirn in einer Unterreife. Damit können sie nicht denken lernen und kein Langzeitgedächtnis aufbauen. Es geht überhaupt nicht.

»Wir haben schon jetzt eine verlorene Generation«

Das wird schwer bis unmöglich umzusetzen sein.

TEUCHERT-NOODT: Ich weiß, das ist hypothetisch, aber wenn wir es nicht tun, sackt unsere Gesellschaft auf ein verdummendes Niveau herunter. Wir haben schon eine verlorene Generation.

Woran machen Sie das fest?

TEUCHERT-NOODT: Es fängt ja damit an, dass Kinder Konzentrations- und Lernschwierigkeiten bekommen, narzisstisch werden und bereits im jugendlichen Alter depressive Zustände entwickeln. Das ist bereits Tatsache. Einzelne werden es trotz allem immer schaffen, das ist klar, aber es werden zu wenige sein, wenn die Schulen systematisch auf digitalisiertes Lernen umstellen. Mit den Stirnhirn-Fähigkeiten bewältigen wir auch Angstsyndrome und Konflikte. Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn dieser Teil des Gehirns nicht ausreifen kann.

Es entsteht eine aufgeregte, erregte Gesellschaft, die schnell aus den Fugen gerät?

TEUCHERT-NOODT: Ja. Und wir bemerken es längst, dass das geschieht.

Gibt es Schulen, die es richtig machen?

TEUCHERT-NOODT: Ja, die Montessori- und Waldorfschulen. Waldorfschulen sind übrigens der Exportschlager des deutschen Bildungssystems geworden. Selbst in Südkorea, wo Tablets Bücher ersetzen sollten, wächst jetzt die Skepsis. Dort bauen sie überall Waldorfschulen auf, wie ich höre. In den Schulen lässt sich befriedet lernen. Das macht klug.

Die Fragen stellte der Neue Westfälische-Redakteur Ansgar Mönter. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.