Ein anderer Blick auf die „Digitale Bildung“ (Teil I)

Smartphone und TabletPC als Lernmittel?

Digitale Bildung scheint angesagt: Unterricht mit digitalen Medien wie Smartphone und Tablet-PC per WLAN. Und verständlich sind die Ängste der Eltern, die ihre Kinder chancenlos in der digitalen Welt glauben, wenn diese nicht schon in der Grundschule Apps programmieren lernen. Aber wer bei der Analyse und Bewertung dieser Entwicklung nur fragt „Nützen digitale Medien im Unterricht?“, verengt den Blick, reduziert auf Methodik und Didaktik und schließt Gesamtzusammenhänge aus. Mit ausgeklügelten Methoden, den Hype um digitale Medien nützend, greift Google nach der Kontrolle des US-Bildungswesens, auch über die Inhalte.

Die IT-Unternehmerin Yvonne Hofstetter schreibt in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie“: „Mit der Digitalisierung verwandeln wir unser Leben, privat wie beruflich, in einen Riesencomputer. Alles wird gemessen, gespeichert, analysiert und prognostiziert, um es anschließend zu steuern und zu optimieren.

Die Superwanzen Smartphone und TabletPC als Lernmittel

Mit dem Ersatz des Schulbuches durch Smartphone oder TabletPC geben wir jedem Schüler eine Superwanze: „Smartphones sind Messgeräte, mit denen man auch telefonieren kann … Dabei entstehen riesige Datenmengen, die dem, der sie analysiert, nicht nur Rückschlüsse auf jedes Individuum erlauben, sondern auch auf die Gesellschaft als Ganzes“, so Hofstetter. Der Schutz der Privatsphäre als Grundrecht ist ein Garant für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Diese Geräte heben die Privatsphäre auf. Die Digitalisierung hat damit eine neue Sozialisationsbedingung geschaffen. Alles, was der einzelne User im Netz tut, jeder GoogleKlick, jeder FacebookEintrag wird gespeichert, um Personenprofile digitale Zwillinge zu erstellen. Schon heute sind die Überwachung der Lern- und Entwicklungsdaten aller Individuen und der Handel mit den digitalen Zwillingen ein Milliardengeschäft.

Die persönlichen Daten aus Facebook, Google und Twitter sind das Gold des 21. Jahrhunderts, v.a. für die Weckung von Konsumbedürfnissen. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Industrie Smartphones und TabletPCs in KiTas und Schulen etablieren will. Sie ermöglichen die Datenerfassung bereits dort, wo die Kunden der Gegenwart und Zukunft sozialisiert werden, in der Kita und in der Schule. Gesteuert von Algorithmen kann so früh der gläserne Konsument und angepasste Schüler erzogen werden.

Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“

„Digitale Bildung“ meint nicht den nützlichen Einsatz digitaler Medien als Hilfsmittel im Unterricht meint, z.B. Word, Power Point oder Excel zu lernen, Auswertungen von Versuchen mit Programmen vorzunehmen, statistische Berechnungen durchzuführen oder zu lernen, Filme digital zu drehen und zu schneiden. Dies gehört heute zu den Grundfertigkeiten, die man ab der Oberstufe lernen sollte. Und dazu genügen stationäre PCs.

Es besteht nun aber die Gefahr einer schleichenden Neuausrichtung des Erziehungswesens, nämlich die Übernahme der Erziehung selbst durch digitale Medien bereits ab den KiTas. Das Rationalisierungspotential macht um die Schule keinen Bogen. So wie bei der Industrie 4.0 Roboter die Produktion selbständig steuern, sollen Computer und Algorithmen das Erziehungsgeschehen autonom steuern. Welche Entwicklung damit eingeleitet werden soll, verrät Professor Fritz Breithaupt in der ZEIT (2016): „2036 werden Eltern schon für ihre fünf Jahre alten Kinder einen virtuellen Lehrer abonnieren. Die Stimme des Computers wird uns durchs Leben begleiten. Vom Kindergarten über Schule und Universität bis zur beruflichen Weiterbildung. Der Computer erkennt, was ein Schüler schon kann, wo er Nachholbedarf hat, wie er zum Lernen gekitzelt wird. Wir werden uns als lernende Menschen neu erfinden. Dabei wird der zu bewältigende Stoff vollkommen auf den Einzelnen zugeschnitten sein“.

Die Bertelsmann-Stiftung pusht die „Digitale Bildung“. Ihre Chefs Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt berichten begeistert: Die Software „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. (…) Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird.“

Man muss sich vor Augen halten, was sich durch die Digitalisierung der Schulen ändern könnte:

  • Die Schüler sitzen vereinzelt am TabletPC, werden überwacht und gesteuert von Algorithmen. Ein sprechender Computer gibt Aufgaben und Übungen vor.
  • Digitaler Unterricht bedeutet einen Schritt in Richtung „Schule ohne Lehrer“. Lehrer werden durch autonome Digitaltechnik ersetzt und zu Lernbegleitern degradiert.
  • Kreativität und Querdenken entfällt. Die Software-Optionen, ausgearbeitet bei Google & Co, geben einprogrammierte Kompetenzen vor. Man lehrt nicht mehr Haltung, sondern verwertbares Verhalten, das ist der Kern der Kompetenzorientierung.

Individuelle dynamische Curricula

Prof. Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim) führt die Funktion von Learning Analytics aus: „Mithilfe von Learning Analytics können datenbasierte Auskünfte über das Lernverhalten, Lernaktivitäten und Einstellungen in Echtzeit während des Lernprozesses erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt werden. Somit werden individuelle dynamische Curricula und Echtzeit-Feedback möglich. Durch die umfassende Analyse des Lernkontexts können die Bedarfe der Lernenden frühzeitig erkannt und individuell auf sie reagiert werden. In die Analyse werden im Idealfall auf Ebene der Lernenden folgende Daten mit einbezogen:

  • Merkmale der Lernenden: Interesse, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardisierter Tests, Kompetenzniveau, soziodemografische Daten.
  • Soziales Umfeld: Persönliches Netzwerk, Interaktionen, Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien.
  • Externe Daten: Aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen, Motivation.“

Der „Idealfall“ ist der umfassend überwachte, seiner Privatheit beraubte Schüler. Die scheinbare Individua-lisierung des Lernens durch digitale Medien ist damit per se eine Entmündigung. Der Pädagoge Dr. Matthias Burchardt (Uni Köln) kommentiert: „Der gläserne Schüler wird damit einer unkontrollierten Kontrolle von Maschinen und Algorithmen ausgeliefert. Politisches Engagement gegen diese Technik sollte allein aus der Fürsorgepflicht von Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen erwachsen.“ Professor Lankau (FH Offenburg) nennt dies „im Kern totalitäre Systeme zur psychischen und psychologischen Manipulation und lebenslangen Steuerung von Menschen. Beschrieben wird das systematische Heranziehen von Sozial-Autisten, die auf eine Computerstimme hören und tun, was die Maschine sagt“.

Das hat mit einem humanistischen Bildungsauftrag nichts mehr zu tun. Es geht um Konditionierung in bester behavioristischer Tradition. Schule soll Bildung vermitteln. Bildung ist Haltung, die Fähigkeit, Wissen einzuordnen in ein Wertesystem. Wissen allein, sogenannte PC-vermittelte Skills, ohne Ethik, erzeugt Fachidioten. Schule soll aber mehr als Kompetenzvermittlung sein, sie muss Haltung vermitteln, statt angepasstes Verhalten.
Das, was in den digitalen Bildungvorstellungen als individualisierter Unterricht angepriesen wird, ist Frontalunterricht, vom Menschen befreit: das soziale Gegenüber ist ein von Algorithmen gesteuerter sprechender Bildschirm. Der sozialisierende, gemeinschaftsbildende Klassenverband entfällt, die pädagogische Atmosphäre – erzeugt durch den Lehrer, weicht Vereinzelung, technischer Kälte, Berechenbarkeit und Konditionierung.

Führt der Einsatz von digitalen Medien zu besserem Lernen?

Konnte inzwischen mit Vergleichsstudien belegt werden, dass digitale Medien zu besseren Lernerfolgen führen als die bisherige „analoge“ Erziehung? Nein, im Gegenteil. Dazu verweise ich auf die Beiträge auf der Anhörung im hessischen Landtag am 14. Oktober 2016 „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“. Die dort vortragenden Experten Burchardt, Lankau und Spitzer weisen nach, dass alle bisherigen Untersuchungen ergaben, dass der Einsatz der digitalen Medien nicht zu besserem Lernen führt. Dazu drei Beispiele:

  1. Im OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015), der den Nutzen von Digitaltechnik belegen sollte, schreibt der Chef des OECD-PISA-Programms Andreas Schleicher im Vorwort: „Die Ergebnisse zeigen auch keine nennenswerten Verbesserungen in der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in IKT (Informations- und Kommunikationstechno-logie) für Bildung investiert hatten. Eine australische Zeitung zitiert ihn mit den Worten: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt“. Die Medienpädagogin Prof. Paula Bleckmann kommt in ihrer Auswertung der Studienlage unter Einbeziehung des OECD – Berichtes zu dem Schluss: „Nachgewiesen ist ein erhöhtes Risiko für Verzögerungen in der Sprach- und Bewegungs-entwicklung, für Übergewicht, für Schlafstörungen, für Empathieverlust, und für Schulversagen“.
  2. Eine über drei Jahre gelaufene Hamburger Studie mit über 1.300 Schülern zeigt für den dortigen BYOD-Ansatz (Bring your Own Device), dass Erwartungen nicht erfüllt werden. Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Rudolf Kammerl stellt in der Auswertung über den Einsatz von privaten Smartphones und Tablets fest, das BYOD-Projekt führe bei Schülerinnen und Schülern weder zu einer messbar höheren Leistungsmotivation, noch zu einer stärkeren Identifikation mit der Schule. Es werde weder besser mit Quellen umgegangen, noch sei eine höhere Informationskompetenz erreicht. Prof. Ralf Lankaus Kommentar, aus seiner Sicht wäre eine mögliche Übersetzung von BYOD „Begin Your Online Desaster“.
  3. In Australien wurden im Jahr 2012 nach einem Absacken im PISA-Ranking ca. 2,4 Milliarden australische Dollar in die Laptop-Ausstattung von Schulen investiert. Seit 2016 werden sie wieder eingesammelt. Die Schüler haben alles damit gemacht, nur nicht gelernt. Ähnliches geschieht in Südkorea, Thailand, USA und der Türkei. Länder, die Deutschland in der Digitalisierung voraus sind, korrigieren den Digitalisierung-Hype. Was bleibt da von dem Argument: wir dürfen den Anschluss nicht verpassen? Prof. Lankau hat den Begriff „Trojanisches Pferd Digitale Bildung“ geprägt. In der Phase 1, die wir derzeit erleben, werden Lehrerinnen und Lehrer von IT-Anbietern zu Technik-Coaches ausgebildet. Sie lernen, die Produkte der jeweiligen Anbieter im Unterricht einzusetzen. In Phase 2 übernehmen dann vollautomatische eLearning-Systeme mit synthetischen Stimmen das Lehren. Der Lehrer wird zum Lernbegleiter, oder überflüssig. Was bei uns derzeit eingeleitet wird, kann man in den USA an der Googlification der Public Schools in Chicago bereits verfolgen.

Teil II: Sieben bereits eingetretene Nebenwirkungen der Digitalisierung

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