Zum Umgang mit Digitalen Medien in Kindheit und Jugend

Die Nutzung elektronischer Medien ist bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren exorbitant gestiegen. Gastbeitrag von Dr. Christine Bär

Die Nutzung elektronischer Medien ist bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren exorbitant gestiegen. Zwischen vier und 10 Stunden täglich nutzen Kinder und Jugendliche digitale Geräte (Hensinger 2019). Ihre Selbsteinschätzung der Nutzungsdauer liegt bei 221 Minuten täglich (Vollberg 2018). Dieses große zeitliche Ausmaß wurde durch die Einführung des Smartphones und damit durch die räumlich und zeitlich unbegrenzte Internetnutzung möglich, relativ unabhängig von der Kontrolle der Eltern.

Die Nutzung der Mädchen ist überwiegend geprägt von: Whatsapp, Instagram, Facebook, Filme und Musikvideos, Youtube, Onlineshopping, Spiele.

Die Nutzung der Jungen ist überwiegend geprägt von: Gaming, Filmen und Musikvideos (Youtube), Facebook aber auch von Whatsapp.

Was genau zieht die Aufmerksamkeit der NutzerInnen über so viele Stunden in den Bann?

  • Es besteht jederzeit die Möglichkeit, dem tristen Alltag oder unangenehmen Situationen zu entfliehen, die User können sich von der realen Welt abschirmen und versuchen, inneren und äußeren Konflikten aus dem Weg zu gehen, Spannungen abzubauen.
  • Die soziale Anerkennung wird im Netz gesucht, d. h. durch Vergleiche, likes, und Wettbewerb um das beste Foto, das gepostet wird.
  • Der Spieltrieb (ähnlich wie beim Glücksspielautomaten) wird permanent angeregt, die verschiedenen Optionen im Internet ködern die gesamte Aufmerksamkeit.
  • Immer mehr Apps erhaschen unbewusst die Aufmerksamkeit der User vor allem durch Likes, aber auch durch die Autoplayerfunktion bei Youtube (Rudolph 2019).

Beeinträchtigung des Alltags durch das Smartphone:

  • • Das Smartphone erzeugt ständige Unterbrechungen vom eigenen Tun und ermöglicht ständiges Multitasking. Multitasking überfordert aber das Gehirn und die Produktivität sinkt nachweislich (Smith 2015, Markowitz 2015, S. 86 ). Im Schnitt schauen die NutzerInnen alle 15 Minuten auf ihr Smartphone. Dadurch wird sich niemals längere Zeit auf eine Sache konzentriert, was einen Flow-Zustand und eine tiefere Beschäftigung mit einer Sache verhindert.
  • Die Impulskontrolle wird eingeschränkt (ich wollte eigentlich was anderes tun oder im Internet etwas für die Schule nachschlagen, werde aber von den neuesten Youtubes , dann Whatsapp-Nachrichten dann etc. „geködert“ und surfe dann mehrere Stunden ohne das zu tun, was ich eigentlich tun wollte (Rudolph 2019; Spitzer 2012).
  • Das Verinnerlichen von Impuls- und Selbstkontrolle sowie Triebverzicht im Dienste der Sublimierung und Kulturtechniken, das die gesamte Kindheit- und Jugendzeit mühsam gelernt werden muss, wird somit verhindert (Spitzer 2012).
  • Es gibt für viele Kinder keine Hobbies, keine Pausen, keine Langeweile mehr, jede Lücke wird digital gefüllt, etwas das Warten. Produktive Übergänge und Pausen im Alltag gehen dadurch verloren.

Die Suche nach sozialer Anerkennung und Identität hat sich bei vielen Kindern und Jugendlichen überwiegend auf die Kontakte im Internet verlagert.

Das Smartphone ist auch ein wichtiges Mittel um Dazuzugehören: Wenn die Mehrheit in der Klasse ein Smartphone besitzt, geschieht keine Verabredung mehr ohne Whatsapp; insgesamt finden aber deutlich weniger reale Verabredungen statt, da die NutzerInnen vermehrt online in Verbindung sind.

Selbst ein ausgeschaltetes Smartphone in der Hosentasche beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit, weil das Denken daran ständig wie bei jedem anderen Suchtmittel freie Zeitgestaltung und innere Freiheit verhindert (Rudolph 2019, S.55).
Informatiker wie Alexander Markowitz warnen vor dem Smartphone als „Glücksspielautomat“, welches regelmäßig das Belohnungssystem der NutzerInnen stimuliert, indem es wie bei einer Glücksspielsucht Dopamin freisetzt.

Die Süchtigen handeln dann gegen sich selbst und ihren Körper, indem sie kein offline mehr genießen können und stundenlang getrieben weitersuchen nach dem nächsten Kick, der ins nächste Level befördert (zum Beispiel beim Spiel Fortnite). Oder sie schauen bis zu 80 Mal am Tag nach, ob nicht ein neuer Like oder eine erhoffte Whatsappnachricht aufblitzt.

Langfristige Folgen der exzessiven Smartphonenutzung in Kindheit und Jugend:

  • Aufmerksamkeitsstörungen vor allem durch die scheinbare Möglichkeit des Multitaskings (neben den Hausaufgaben schaue ich immer wieder drauf, beantworte Nachrichten etc.).
  • Hemmung der Sprachentwicklung durch virtuelle Kommunikation per Whapsapp und Facebook (Hensinger 2019)
  • Schreib- und Lesekompetenz wird nur unzureichend ausgebildet (vertiefte Lesefähigkeit kann sich nicht ausbilden durch flüchtiges Wischen und Springen)
  • Abstraktes Denken sowie Schriftsprachkompetenz kann somit nicht ausgebildet werden (Teuchert-Noodt 2019)
  • Kognitive Funktionsreifung des Gehirns ist durch frühe Nutzung in Schule und Freizeit in Gefahr
  • Reale Erfahrungen in Zeit und Raum (Bewegung, Malen, Basteln, Zeichnen, Sprechen, Singen Malen, Schreiben mit Handschrift) sorgen dafür, dass sich bei Kindern die neuronalen Verschaltungen zum späteren abstrakten Denken ausbilden (ebd.).
  • Ein sinnvoller Umgang kann frühestens mit Eintritt in die Pubertät erworben werden, ist auch da eine Herausforderung.
  • Begrenzungen (wie eine Stunde täglich ist erlaubt) sind schwer durchsetzbar, da sie durch die starke Anziehungskraft und den Suchtfaktor umgangen werden.

Fazit

Eltern und Erwachsene haben die wichtige Aufgabe, Vorbild zu sein und sollten das Smartphone in der Freizeit so wenig wie möglich nutzen (Teuchert-Noodt 2019): Die Wiedereinführung und Nutzung eines Festnetzanschlusses zu Hause kann die sozialen Kontakte vernetzen, ein Handy für Kinder, die unterwegs sind, nur zum Telefonieren (ohne Internetzugang).

Die Schule sollte den Umgang mit digitalen Medien und die digitalen Lerntechniken systematisch erst ab ca. 14 Jahren einführen und dann immer auch die Technikfolgeabschätzungen thematisieren (Hübner 2019, Lankau 2017). Die Kinder von Bill Gates und anderen Informatikern aus dem Silicon Valley durften erst mit 14 ein Smartphone haben, und viele VertreterInnen des Silicon Valley schicken ihre Kinder bewusst auf Waldorfschulen (Rudolph 2019).

Erziehung zur Medienmündigkeit wie die Professorin für Medienpädagogik Paula Bleckmann (2018) es formuliert, ist gefordert. Das heisst, sich selbst frei von Suchtverhalten und sozialer Sogwirkung entscheiden zu können, wann und für was ich das Internet und das jeweilige Medium nutze, ohne von innerem und äußeren Zwängen gelenkt zu werden.

Literatur

  • Bleckmann, Paula (2018): Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Hensinger, Peter (2019): i-Disorder. Auswirkungen der Digitalisierung auf das Erziehungswesen. In: Erziehungskunst Heft 4, S. 11-16.
  • Hübner, Edwin (2019): Auf den Lehrer kommt es an. In: Erziehungskunst, Heft 4, S. 16-21.
  • Markowitz, Alexander (2015): Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist. München: Droemer.
  • Lankau, Ralf (2017): Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim: Beltz.
  • Teuchert- Noodt, Gertraud (2019): „Das wird eine ganze Generation in die Steinzeit zurückwerfen“. Im Gespräch mit der Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt. In: Erziehungskunst. Heft 4. S. 5-11.
  • Rudolph, Christoph (2019: Was macht das Smartphone in unserer Hosentasche. In: Erziehungskunst Heft 11, S. 52-56.
  • Smith, Karin (2015): Der allgegenwärtige Gefährte. Vieles spricht dafür, dass das ständige Multitasken schlecht ist fürs Gehirn, fürs Lernen und unser Seelenleben. In: Erziehungskunst, Heft 10, S. 58-61.
  • Spitzer, Manfred (2012): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer.
  • Vollberg, Susanne (2018): Klug durch YouTube!? Zur Relevanz von populären Wissenschaftskanälen und Lernvideos für Jugendliche. In: tv diskurs. Heft 3. 22. Jg. S. 48-54.

Gaetbeitrag von Frau Dr. Christine Bär, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Karl-Glöckner-Straße 21B, 35094 Gießen, Christine.baer.@erziehung.uni-giessen.de