Zwischentöne statt Schwarzweiß

Über den sinnvollen Einsatz von Medientechnik im Unterricht

Deutschland ist im Digitalfieber: Digital-Agenda,Digitalgipfel, Digitalpakte. Die Kultus- und Schulminister, zuständig für Bildungseinrichtungen, wollen da nicht hinten anstehen.

So fordern sie etwa im „Digitalpakt Schule“, dass alle Schulen – unabhängig vom Alter der Schülerinnen und Schüler, unabhängig von der Schulform und unabhängig von den konkreten Fachinhalten – digitale Geräte und Techniken einsetzen sollen. Zugleich sollen alle Lehrkräfte im Einsatz von Digitaltechnik nicht nur geschult, sondern zu deren Einsatz verpflichtet werden.

Wenn jemand mit Fachverstand und ausgewiesener Expertise diese Digitaleuphorie kritisch hinterfragt und darauf hinweist, dass der undifferenzierte Einsatz von Digitaltechnik in jedem Unterricht, in allen Altersstufen und allen Fächern weder fachlich noch pädagogisch zu begründen ist, wird man schnell in die Ecke der Ewiggestrigen, Technikverweigerer oder Digitalgegner gestellt. Das ist zwar bequem und mittlerweile üblich in einer überhitzten Debatte. Aber es ist inhaltlich falsch und für den demokratischen wie wissenschaftlichen Diskurs ein Armutszeugnis.

Der differenzierte Einsatz von Medientechnik

Das Bündnis für humane Bildung setzt sich für einen altersangemessenen und differenzierten Einsatz von analogen wie digitalen Lehr- und Lernmedien im Unterricht ein. Auf Basis wissenschaftlicher Studien aus der Kognitionsforschung, der Entwicklungspsychologie und Pädagogik werden folgende Empfehlungen formuliert.

  • Kindertagesstätten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit digitalfrei. Kinder müssen erst in der realen Welt zu Hause und dort sicher sein, bevor sie virtuelle Welten erkunden. Kinder müssen erst in den klassischen Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) sicher werden, die manuell eingeübt werden. Sie werden zugleich an die manuellen Gestaltungstechniken herangeführt: Basteln, Malen, Zeichnen und Musizieren, auch Theater und Tanz, Sport und Naturerlebnis.
    Was in der Grundschule thematisiert werden muss, ist das Mediennutzungsverhalten, sind konkrete Inhalte und mögliche Folgen der Mediennutzung. Es ist wie mit dem Fernsehen. Niemand unterrichtet Fernsehschauen in der Grundschule, obwohl die meisten Kinder zu Hause fernsehen. Man muss aber über Gesehenes und Erlebtes mit den Kindern in der Schule sprechen, damit sie es verarbeiten können.
    Dieser Transfer ist typisch für Unterricht: Im Verkehrsunterricht lernen Kinder richtiges und sicheres Verhalten im Straßenverkehr, ohne mit acht oder zehn Jahren den Führerschein zu machen. In der Suchtprävention wird über Drogen und Alkohol aufgeklärt, ohne Drogen zu verteilen oder Alkohol auszuschenken. So ist es auch bei der Internetnutzung. Hier sind Präventionslehrer/innen gefragt, die über die Inhalte und Gefahren des Netzes aufklären. Dazu müssen nicht die Kinder ins Netz, die Zusammenarbeit mit z.B. Jugendschutzbeauftragten der Polizei ist sinnvoller. Denn es gibt kein Kindernetz. Die Erwachsenenwelt ist immer nur einen Klick entfernt.
  • Digitaltechnik ist ein Teil unserer Lebenswirklichkeit. In der Unterstufe (Klasse 5 oder 6) wird daher das Verständnis für Informationstechnik (IT)vermittelt. Dann haben Kinder bzw. Jugendliche die notwendige, persönliche Reife. Dafür braucht man weder Rechner noch Bildschirme. Projekte wie „Computer Sciences Unplugged“ (csunplugged.org; deutsch: einstieg-informatik.de) vermitteln Kindern ein fundiertes Verständnis für die Funktionsweise und Logik der Informationstechnik, ganz ohne Rechner und Software. Gelernt werden Grundlagen, Fragestellungen und Methoden der Informatik – als Denk-Werkzeug.
  • In Klasse 6 oder 7 kann man „echten“ Informatikunterricht mit kostengünstigen, gleichwohl voll programmierbaren Kleinrechnern wie Arduino (eine Leiterplatte mit Mikrocontroller und Steckplätzen und eigener Programmiersprache) oder Raspberry Pi anbieten. Ein Klassensatz dieser scheckkartengroßen Rechner kostet ca. 1.000 Euro. Als Peripheriegeräte wie Tastatur, Maus, Speicher oder Bildschirme kann man vorhandenes Material nutzen. Für Schulen gibt es gut dokumentierte und geeignete Projekte. Mit diesen Rechnern kann man programmieren und ins Netz gehen. Nur für den Consumermodus (wischen und tippen) sind sie nicht geeignet, weil man erst was tun muss, bevor sie laufen.
  • Ab Klasse 8 kann man mit Desktop-Rechnern, Laptops und Open Source-Software sowohl Software schulen wie eigene Medienprojekte umsetzen. Software-Schulung bedeutet dabei: die Prinzipien von Textverarbeitung, Desktop-Publishing oder z.B. Webdesign oder Videoschnitt verstehen und eigene Projekte damit umsetzen. Das ist weitaus zukunftsrelevanter als Microsoft- oder Abobe-Programme einzuüben. Zudem kristallisiert sich heraus, dass das Wischen und Tippen auf TabletPC und Smartphone echte Computerkenntnisse eher verhindert als fördert.
  • Bei Medienprojekten am Ende der Mittel-, besser in der Oberstufe, werden Bilder und Filme erstellt, eine Schülerzeitung oder Inhalte für Websites generiert und das ganze mit Offline-Produktionsrechnern umgesetzt. Offline heißt: Die Rechner sind untereinander vernetzt, aber nicht ans Internet angeschlossen. Nur so kann sicher gestellt werden, dass keine Schülerdaten ausgelesen und ausgewertet werden.
  • Die fertigen und (vom Lehrer, Schulleiter oder bei älteren Schülergruppen den Verantwortlichen) freigegeben Inhalte werden dann über einen Netzrechner ins Netz gestellt. Nur so kann der Lehrer oder die Projektgruppe entscheiden, was und wann es öffentlich wird.
  • Das mag komisch klingen in einer „Rund-um-die-Uhr-und-jederzeit-erreichbar-Online-Welt“, aber das ist z.B. das Konzept vom Apple Design Lab. Kein Produktionsrechner hängt im Netz. Nur so konnte Steve Jobs, nur so kann heute Tim Cook selbst entscheiden, wann etwas publiziert wird.
  • Für Berufsschulen ergeben sich die Lehrinhalte und Anwendungen direkt aus der in den Betrieben und in der Produktion eingesetzten Software.
  • Studierende hingegen muss man mitunter darauf hinweisen, dass es neben Social Media-Diensten und YouTube-Lernvideos auch noch „echte“ Software zum Arbeiten und analoge Medien gibt.

Summa summarum: Informationstechnik, Rechner und Software sind Teil unserer Lebenswirklichkeit. Aber niemand weiß, wie unsere „digitale Arbeits- und Lebenswelt“ in fünf oder 15 Jahren aussehen wird. Das heißt, Schulen müssen auf diese technisierte und digitalisierte Welt vorbereiten. Schule kann aber nicht auf aktuelle Technik fokussieren, sondern muss auf Verständnis und Verstehen von Strukturen und Prinzipien abzielen. Schule hat keine Konsumenten zum Ziel, die am jeweils aktuellen Gerät tippen, wischen – oder demnächst unter der VR-Brille und Kopfhörern mit ihrem persönlichen Avatar sprechen. Schule muss Denk-Werkzeuge und dadurch generelle Handlungsoptionen vermitteln, die unabhängig von der jeweils aktuellen Technik funktionieren.

Das bedeutet als erstes: Neben Informatikunterricht und Medienprojekten müssen zuvor noch die klassischen Kulturtechniken gefördert werden, Lesen vor allem und Schreiben, aber auch manuelles Gestalten. Das fördert die haptische Sensibilität, das Vorstellungsvermögen und Kreativität. Es sollte daher kein Klassenzimmer ohne Bücherregal und keine Schule ohne Bibliothek geben, weil Schulen oftmals der einzige Ort sind, wo Kinder mit anderen als Bildschirmmedien vertraut werden. Es sollte in jeder Schule ein Mal- und Musikzimmer geben und echte Instrumente, um frei damit zu spielen.

Gefördert werden muss der Sprachunterricht. Das Sprachvermögen nimmt ebenso ab wie das Konzentrationsvermögen. Beides verhindert, dass Kinder und Jugendliche konzentriert und ausdauernd lesen lernen. Damit aber fehlt bereits die Basis für Bildungsbiographien.

Gefördert werden muss der Mathematikunterricht in Grundschulen. Wer mathematisch (also logisch und strukturiert) denken lernt, kann später leicht programmieren lernen, egal, welche Programmiersprache dann gerade aktuell ist. Wer hingegen gleich Programmiersprachen lernt, bleibt immer eingesperrt in diesen Maschinendialekt und die Partikularlogik einer Sondersprache.

Gefördert werden muss der Musikunterricht. Wer ein Instrument spielen lernt, entwickelt nicht nur seine (fein-)motorischen Fähigkeiten, sondern alle Sinne und Fertigkeiten, einschließlich der sozialen, wenn man zusammen musiziert. Mathematik, Musik, Sprache und manuelles Gestalten sind die Grundlage für die erfolgreiche Lernbiographien, die sich dann individuell in die geistes- oder naturwissenschaftlichen, die sozialen oder technischen Fächer ausdifferenzieren können.

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
stellvertretend für das Bündnis für humane Bildung
Der Text als PDF: Zwischentöne statt Schwarzweiß