„Kümmert euch endlich um die Kinder, nicht um Tablets!“

Professor Zierer zur Ankündigung von CSU-Generalsekretär Huber, bis 2028 alle Schülerinnen und Schüler mit Tablets auszustatten

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Als „Bildungspolitischen Aktionismus“ bezeichnet Klaus Zierer das Versprechen der bayerischen Regierungspartei, in den nächsten fünf Jahren über 1,6 Millionen Schülerinnen und Schüler an gut 6.400 Schulen in Bayern mit Tablets auszustatten. Hier werde ohne wissenschaftliche Evidenz über wichtigere pädagogische Herausforderungen hinweggegangen. Das folgende Statement des Augsburger Ordinarius hinterfragt den parteipolitischen Kurs und begründet die Kritik mit empirischen Forschungsergebnissen.

„Die flächendeckende Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit Tablets ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht nicht begründbar, viel eher unverantwortlich. Es fehlt Evidenz für eine solche Initiative. Seit Jahren sinkt das Bildungsniveau trotz steigender Bildungsausgaben und es wird mit dieser Initiative weiter sinken, denn mediale Ablenkung, zunehmender Verlust an klassischen Lernhaltungen und abnehmende soziale Kompetenzen sind die Folge unreflektierter und kontextfreier Implementierung von Technik. Es ist mir unverständlich, wie man in Zeiten von Finanznot, Erosion der Demokratie und Bildungskrise den Heilsbringer in der Digitalisierung sucht, die mitverantwortlich für die genannten Probleme ist. Das Ganze gleicht einem Digitalisierungswahn! Während andere Länder, wie Frankreich, zuletzt Schweden und Niederlande, aufgrund der Studienlage umdenken, wird in Bayern Kurs gehalten. Viel sinnvoller wären wirksame Maßnahmen zur Behebung des Lehrermangels und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer, zur Intensivierung der Elternkooperation und vor allem zur systematischen Behebung von Lernrückständen schon bei Grundschulkindern.

Die Erkenntnisse der empirischen Bildungsforschung zur Lehr- und Lernwirksamkeit digitaler Medien sind eindeutig:

(1) Analoge Schulbücher in Printform sind didaktisch wertvoller als digitale Varianten.

Auch wenn digitale Medien mehr Möglichkeiten eröffnen, beim Lernen spricht vieles für das Analoge. In der Metaanalyse von Pablo Delgado und Kollegen „Don’t throw away your printed books“ sind Bücher und Arbeitshefte effektiver für Wissensaufnahme und Informationsverarbeitung. Kinder gehen bei Tablets schneller über den Text hinweg und erreichen nur oberflächliches Lesen, während bei der Rezeption von Texten auf Papier langsamer und damit fokussierter sowie konzentrierter gehandelt wird. Für die fachübergreifend elementare sprachlichen Bildung kommt also analoges vor digitalem Lesen.

(2) Digitale Medien reduzieren den Wortschatz und hemmen die Fähigkeit zur Textproduktion.

Die Sonderauswertung „Zum Stand von Wortschatz und Leseverhalten“ aus dem Jahr 2022, von Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz finanziert, belegen die Folgen digitalen Lesens für Umfang und Qualität des individuellen Lexikons: Der Wortschatz der Kinder in der vierten Klasse ist im Mittel umso größer, je häufiger sie Bücher lesen. Im Gegensatz dazu ist der mittlere Wortschatz umso kleiner, je häufiger Kinder außerhalb der Schule an digitalen Geräten lesen. Selbst wenn in der Studie nicht explizit papier- und digitalbasierte Bücher gegenübergestellt wurden, so lässt sich aufgrund der Fragestellung dieser Unterschied ableiten, und er führt dann auch zum Fazit der Autorinnen und Autoren, dass Kinder, die selten Bücher lesen, dafür häufig an digitalen Geräten den höchsten Förderbedarf hinsichtlich ihres Wortschatzes aufweisen.

(3) Die flächendeckende Ausstattung mit Tablets erhöht die Bildungsungerechtigkeit.

Wortschatz und Leseverhalten sind mit dem familiären Hintergrund assoziiert. Digitale Medien verstärken Bildungsungerechtigkeit. Exemplarisch dafür steht die Untersuchung „International Computer and Information Literacy Study (ICILS)“ von 2018. Hinsichtlich der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen zeigte sich, dass Jugendliche aus bildungsnahen Milieus die Möglichkeiten einer Digitalisierung besser nützen als Jugendliche aus bildungsfernen Milieus. Auch der jüngst veröffentlichte UNESCO Global Education Monitoring Report spricht dieses empirisch belengten Zusammenhang an. Technik alleine verbessert diese Situation nicht, sondern verschärft die Unterschiede.

(4) Der Ersatz von Schulheften durch Tablets führt zu Bildungsdefiziten.

Die Datenlage zur Intensität und Qualität der Aufnahme von Informationen sowie der Wirksamkeit schriftlicher Übungen im Vergleich von analogem und digitalem Lesen ist eindeutig. Ähnliches gilt für das Schreiben. Hier liefert die Metaanalyse „Is the Pencil Mightier than the Keyboard?“ von Mike Allen und Kollegen eine deutliche Antwort für das Schreiben per Hand, das dem Schreiben mit digitalen Endgeräten wie Computer oder auch Tablet überlegen ist.

(5) Bildungsmedien sollten ökologisch verantwortungsbewusst ausgewählt werden.In Zeiten von Energieknappheit und Ressourcenschutz ist die Frage des Ressourceneinsatzes, des Stromverbrauches sowie der Aufwendungen für Beschaffung, Unterhalt, Wartung und Entsorgung von Bedeutung. Aufschlussreich sind hier Studien von Armin Mühlmatter und Kollegen aus der Schweiz. In diesen konnte nachgewiesen werden, dass im Studium Skripte aus Recyclingpapier nachhaltiger sind als ein Tablet.

(6) Bildung ist zweckfrei und darf nicht von Tech-Konzernen bestimmt werden.
Mit der flächendeckenden Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Tablets wird eine Abhängigkeit hergestellt, die auf längere Sicht hin unverantwortlich ist. Tech-Giganten wie Apple und Microsoft drängen seit Jahren in die Schulen und schaffen damit bereits Monopolstellungen, die nicht nur auf technischer Ebene stattfinden, sondern auch inhaltlich. Der UNESCO Global Education Monitoring Report mahnt diese Entwicklung an und zeigt auf, wie eine Ökonomisierung von Bildung die Folge ist, in der wenige bestimmen, was unter Bildung zu verstehen ist, und damit auch noch das Geld verdienen.

Der flächendeckenden Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit Tablets fehlt es nach heutiger Datenlage an Evidenz. Sie wird den Kindern mehr schaden als nutzen, denn dieses Medium führt nicht zu einer Verbesserung der Lerneffektivität, sondern vermindert die Bildungswirksamkeit. Alle Parteien sollten von diesem Digitalisierungswahn abrücken und sich wieder den zentralen bildungspolitischen Herausforderungen zuwenden. Erst vor diesem Hintergrund lohnt es sich darüber nachzudenken, wie Digitalisierung Bildungsprozesse unterstützen kann.“

Kontakt:
Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer
Ordinarius für Schulpädagogik
Universität Augsburg
Universitätsstraße 10
86159 Augsburg
Tel.: +49 821 598 – 5575
Fax: +49 821 598 – 5290
E-Mail: klaus.zierer@phil.uni-augsburg.de