Von Ingo Leipner
Sie fingen an, in ihrem Kinderzimmer wacklige Videos zu drehen. Dabei plauderten sie über Lippenstifte oder erklärten ihre Erfolge bei Computerspielen. Ein bisschen Futter für die Eitelkeit – das war der gesamte Lohn der ersten Influencer, die gar nicht wussten, dass sie Influencer sind.
Und heute? Viele Influencer sind längst nicht mehr so harmlos, wie sie auf dem Bildschirm erscheinen. Denn viele nutzen ihre Popularität, um einen fragwürdigen Konsum anzuheizen. Dazu setzen sie auf Psycho-Tricks, um Werbebotschaften effektiv im Bewusstsein des Publikums zu verankern. So wurden sie Teil eines Multi-Milliarden-Business – mit fatalen Folgen für unsere Gesellschaft.
Der Hintergrund: Die Pubertät besteht aus einem Wirrwarr der Gefühle. Sie gilt es freundlich zu begleiten – und nicht für kommerzielle Zwecke auszubeuten. Genau das machen aber einige Influencer, die diese Zielgruppe im Visier haben. Wie manipulieren sie ihr jugendliches Klientel? Dazu blenden wir uns kurz in ein Video ein, das Bianca „Bibi“ Claßen ins Netz gestellt hat: „Neue Körbchengröße / Preis für OP … Ich beantworte ALLES“. [1] Für dieses Video hat sie 1,4 Millionen Klicks bekommen – „Bibi“ gilt als eine der erfolgreichsten Influencerinnen Deutschlands. Mit ihrem Kanal ist sie seit 2012 auf Sendung und hat 5,9 Millionen Abonnenten (Stand Januar 2022).
„Hast Du runde oder tropfenförmige Implantate?“, lautet die erste Frage, die sie im Video vorliest. Sie stammt wohl von einem Follower. „Bibis“ Antwort: „Ich habe mich für runde Implantate entschieden, aber auf jeden Fall anatomische, weil meine Brust natürlich aussehen sollte – und nicht der Eindruck entsteht, dass sie gemacht ist.“ Das Gewicht der Implantate? Der Arzt hatte ihr geraten, zwischen 350 und 410 Gramm zu wählen. „Meine Anforderung war: Ich möchte eine Brust, die voll ist und trotzdem natürlich aussieht. Am liebsten hätte ich C-Körbchen“, erklärt die Influencerin. Sie wirkt locker auf dem Bildschirm, obwohl es um einen chirurgischen Eingriff geht, der unter Vollnarkose stattfindet. Sie erwähnt zwar starke Schmerzen, aber das ganze Video vermittelt den Eindruck: Brust-OP oder Kleiderkauf? Konsum ist Konsum.
Und Schönheitschirurgie ist eine weitere Dienstleistung, die wir einfach in unserer Wohlstandsgesellschaft in Anspruch nehmen. Trivial, leicht zu realisieren und jederzeit verfügbar, um die eigene Körperlichkeit zu optimieren. Die Körbchengröße lässt sich wählen, ebenso die Form der Implantate, je nach persönlicher Präferenz. Alles easy! Alles locker! Kostet zwar 15.000 Euro, aber das sollte es Euch wert sein. „Bibi“ betont, nicht auf den Preis geschaut zu haben …
Was für eine verheerende Botschaft für junge Menschen: Influencer wie „Bibi“ basteln an der Illusion, den eigenen Körper grenzenlos formen zu können. Werde endlich attraktiv! Das hast Du selbst in der Hand! Die Nasenkorrektur, der Filter für lange Beine – endlich kannst Du Dein Elend selbst bekämpfen. Wachse über Dich selbst hinaus, betreibe Dein persönliches Optimierungsprogramm! Klar, dass für solche Botschaften pubertierende Jugendliche empfänglich sind, weil sie gerade heftige Kämpfe mit der eigenen Körperlichkeit ausfechten.
Auch wenn „Bibi“ in diesem Video keine Werbung für den Chirurgen macht, passt der Auftritt prima ins gesamte Konzept: Ein gewisser Voyeurismus wird bedient, Vertrauen aus Distanz hergestellt – und die Beziehung zu den Followern stabilisiert. Wobei: Die Psychologie kennt dafür einen besseren Begriff, die „parasoziale Beziehung“.
Parasoziale Beziehung: Im realen Leben entwickelt sich eine Beziehung, wenn eine persönliche Begegnung stattfindet. Wir reden und lachen miteinander – und merken ziemlich schnell, ob der andere Mensch uns sympathisch ist. In der Medienwelt ist ein neuer Beziehungstyp hinzugekommen, die „parasoziale Beziehung“. Zwischen Rezipient und Medienfigur entsteht eine Beziehung, obwohl im realen Leben keine persönliche Ebene existiert. Früher waren das Pop- oder Serienstars, heute fallen auch Influencer in diese Kategorie.
Theresa Steven schreibt im „Journal für korporative Kommunikation“: „Das Individuum unterscheidet in diesem Fall also kaum zwischen einer tatsächlich existierenden Freundin oder einem Charakter, der lediglich durch Medienkonsum zugänglich wird und mit dem nur eine einseitige Beziehung – ohne Kontakt und Konversation – möglich ist.“ Der verblüffende Effekt: Oft wird die parasoziale Beziehung ähnlich intensiv erlebt wie der Umgang mit „echten“ Menschen. Genau diese psychische Verletzbarkeit nutzen gewisse Influencer aus, um fürs Maketing Pseudo-Freundschaften mit Followern aufzubauen, beschönigend als Teil einer „Community“ bezeichnet.
Parasoziale Beziehungen – sie sollen millionenfach entstehen, damit ein Influencer wirklich erfolgreich ist. „So wird einerseits das Engagement seiner Follower erhöht, da seine Community stärker wird“, schreibt die Influencer-Agentur „Reachbird“ auf ihrer Website. „Andererseits wird der Influencer auch als authentisch und ehrlich wahrgenommen, da er sich öffnet und sich somit verletzlich macht.“
Alles Marketing! Alles Manipulation! Dahinter steckt die Strategie der Selbstenthüllung („self-disclosure“), die dem Konzept parasozialer Beziehungen noch mehr psychische Durchschlagskraft gibt.
Selbstenthüllung („self-disclosure“): Der Begriff steht für ein wichtiges Verhalten, das wir gegenüber anderen Menschen zeigen. Wenn wir über intime und sehr private Aspekte unseres Lebens sprechen, ist das ein wichtiger Schritt, um eine Beziehung zu vertiefen. Dieser Schritt ist mit dem Vertrauen verbunden, dass der andere sein Wissen für sich behält. „self-disclosure“ ist daher eine erfreuliche Verhaltensweise, weil sie im realen Leben die Basis bildet, auf der Menschen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen.
Doch bestimmte Influencer arbeiten geschickt mit einer Strategie des „self-disclosure“, um junge Menschen in parasoziale Beziehungen zu locken. Dabei kennen die Themen kaum eine Grenze: Bisexualität, Tod und Trauer, Schwangerschaft, mentale Probleme, Brusterweiterung, Nasenkorrektur, Erschöpfung nach OP … nichts ist zu privat, als dass es nicht Futter für Videos sein könnte, die Intimität vorspiegeln. Die Wahl dieser Themen folgt einem offensichtlichen Marketing-Kalkül. So schriebt die Agentur „Reachbird“ in alle Offenheit: „Eine mögliche Folge von Self-Disclosure ist, dass sich die Follower mit dem Influencer stärker verbunden sehen und ihn schlussendlich sogar als realen Freund wahrnehmen können.“ Erzählten Influencer von intimen Themen, „kann dies vom Follower als angebotene Freundschaft interpretiert werden.“
Freundschaft? Wenn Millionen andere Jugendliche dasselbe Angebot erhalten? Ganz klar: Mit diesen Videos werden die Gefühle junger Menschen ausgebeutet; der Follower glaubt, einen „virtuellen Freund“ gefunden zu haben – für den Influencer ist er ein „Klick“, der Geld einbringt. Wie leicht das geht, zeigt eine Reaktion auf die Influencerin „Bibi“, die detailreich über ihre Brustvergrößerung vor der Kamera gesprochen hatte: „Bibi du bist einfach so ehrlich und das finden wir toll ❤️ einige hätten das geheim gehalten ! Und wir finden das so gut das du es mit uns teilst ❤️❤️“. So leicht beeindruckt junge Menschen das „self-disclosure“ – als Teil einer raffinierten Manipulationsstrategie.
Und die Agentur „Reachbird“ hält solche Strategien für legitim: „self-disclosure“ und parasoziale Beziehungen bereiten den Weg, um Marken in der Zielgruppe zu verankern. „Da die Follower dem Influencer vertrauen, steigt ihre Kaufabsicht und Bereitschaft für Word-of-Mouth.“ Word-of-Mouth meint „Mundpropaganda“, etwa wenn die Peergroup Produkte der Influncer diskutiert. Weiter heißt es: „Der Vorteil von Influencer Marketing […] kann also durch die parasoziale Beziehung optimiert und effizient ausgenutzt werden.“
Doch die Manipulationen können noch tiefer gehen, wofür die Agentur den Begriff „Brand Love“ verwendet. Die Werber stellen fest, „dass Individuen auch mit Brands eine parasoziale Beziehung aufbauen können.“ „Brands“ sind Marken, was in letzter Konsequenz bedeutet: Klamotten, Lippenstifte und Sneakers treten an die Stelle von Menschen; ihr Kauf stiftet sozialen Nutzen. Jugendliche nehmen Zuflucht zu materiellen Dingen, um immaterielle Bedürfnisse wie Freundschaften zu befriedigen. Was für ein Armutszeugnis für unsere reiche Gesellschaft!
Der Beitrag erschien am 29.01.2022 im Magazin des „Mannheimer Morgen“, als Kurzfassung des Kapitels „Social-Media-Helden“ im Buch „Moderne Rattenfänger“ (Redline, 2020), das der Autor ebenfalls geschrieben hat.