Ein Umdenken ist dringend erforderlich. Gastbeitrag von Thomas Meinen.
Iwan Petrowitsch Pawlow, russischer Mediziner und Physiologe, erhielt 1904 den Nobelpreis für Medizin für seine Arbeiten über die Verdauungsdrüsen. Weiterhin erarbeitete er wichtige Grundlagen für die Verhaltensforschung und legte damit einen Grundstein für die behavioristischen Lerntheorien. Bekanntester Träger seines Namens dürfte der Pawlowsche Hund sein, an dem er die klassische Konditionierung nachwies.
Er war der Überzeugung, dass Verhalten auf Reflexen beruhen kann, und entdeckte das Prinzip der klassischen Konditionierung. Dabei unterschied er zwischen unkonditionierten (auch natürlich genannten) und konditionierten Reflexen, die durch Lernen erworben werden. Bei seinen Studien stellte Pawlow fest, dass die Speichelsekretion eines Hundes nicht erst mit dem Fressvorgang beginnt, sondern bereits beim Anblick der Nahrung. Irgendwann reicht bereits ein vormals neutraler Reiz aus, um die Speichelsekretion auszulösen. Pawlow bezeichnete dies als konditionierten Reflex.
Watson, amerikanischer Psychologe und Begründer des Behaviorismus, stützte sich auf die Beobachtungen von Pawlow und versuchte diese auf den Menschen zu übertragen. In Pawlows Untersuchungen waren alle Versuche ausschließlich an Tieren vorgenommen worden. Watson überprüfte die Pawlow’sche Erkenntnis am Menschen. Er vertrat die Meinung, dass jegliches Verhalten konditionierbar sei. Beispiel: Ein Kind fasst auf die heiße Herdplatte, verbrennt sich und lernt, dass es das besser nicht tun sollte (Herdplatte = Schmerzen). Hier findet also ein Lernprozess statt. Psychologen sprechen hier von operanter Konditionierung. Ähnlich wie Pawlows Hund, der sabbert, wenn die Glocke klingelt. Auch ein Lernprozess. Was aber hat das mit Bildung zu tun? Nichts.
Hier soll es um Bildung gehen. In einem Leserbrief schrieb ein Hanauer Politiker unlängst: „Wir müssen in Bildung investieren.“ Das sei ein Mantra, das immer spätestens dann rausgekramt werde, wenn Wahlkämpfe am Horizont aufblitzten. Wenn es konkret werden soll, so heißt es weiter, fehlten aber oft die Ideen, was man damit meine. Was ist Bildung? Oder meine man, wenn man von Bildung redet, eigentlich Lernen?
Die Corona-Krise und die damit verbundenen Schließungen von Schulen und Hochschulen haben zu einer forcierten Diskussion um die sog. Digitalisierung geführt. Dabei werde die Krisensituation offensichtlich genutzt, um neben sinnvollen und notwendigen Maßnahmen die bislang aus Sicht ihrer Befürworter zu schleppend vorangekommene „digitale Transformation“ von schulischem Unterricht und Lehre in den Hochschulen voranzutreiben. Unterstützt werde das von den entsprechenden Lobbygruppen, aber auch von Lehrer- und Elternverbänden unterschiedlicher Couleur. In der aufgeheizten Debatte gehen nach Auffassung der Gesellschaft für Bildung und Wissen dabei allerdings sowohl pädagogische und didaktische als auch datenschutzrechtliche und infrastrukturelle Grundfragen verloren.
Was soll`s. Die Digitalisierung soll der Bildung auf die Sprünge helfen und endlich dafür sorgen, dass Deutschland aus dem Tal der Ahnungslosen herauskommt. Welche Schmach. Das Land der Dichter und Denker lediglich im Mittelfeld. In der internationalen Vergleichsstudie ICILS landeten deutsche Achtklässler/innen im Jahr 2018 nur im Mittelfeld, was den Umgang mit digitalen Informationen angeht. Ein Drittel der Jugendlichen hat nur sehr rudimentäre Computerkenntnisse, kann also „nur Links anklicken und E-Mails öffnen“, wie es die Leiterin der Studie für Deutschland, Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn, im Deutschlandfunk zusammenfasst. Informationen reflektiert bewerten und etwa die Quelle überprüfen, könnten diese Schüler/innen nicht.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, kurz GEW, ist ebenfalls der Meinung, dass deutsche Schulen bei der Digitalisierung hinterherhinken und zieht zum Beweis eine Sonderauswertung der PISA-Erhebung heran. Sie zeige, wie weit Deutschland hinterherhinkt. Das betreffe nicht nur die Online-Lernplattformen, sondern auch die digitale Ausstattung und die Lehrerfortbildung. Die Digitalisierung, so die GEW, könne beides sein: Gefahr und Hilfe. Schüler und Eltern hätten jedenfalls deutlich gemacht, dass digitales Lernen öde und freudlos sein kann. Schulisches Lernen brauche Gemeinschaft und Lehrer. Das Vertrauen in einen digitalen Nürnberger Trichter wäre ein Super-GAU.
Auch die Gesellschaft für Bildung und Wissen ist der Auffassung, dass Schulen durch Digitaltechniken die Möglichkeit hätten, durch aktive und kreative Medienproduktion aus Rezipienten Akteure werden, die im Unterricht selbst Medien gestalten und produzieren. Eigene Praxis und der Diskurs über Entstehungsbedingungen und Einflussmöglichkeiten durch Textarbeit, Bildwahl, Sound etc. ermöglichten einen emanzipierten Einsatz von und Umgang mit Medien. Dazu gehöre allerdings, dass sie über genügend logisches Denkvermögen, kulturelles und technisches Wissen und Eigenverantwortung verfügen, um analoge und digitale Medien reflektiert für eigene Zwecke und Ziele einsetzten. Oder sie bewusst nicht zu nutzen.
Nachdem kürzlich eine Studie der Universität Hildesheim die verheerenden Folgen der Online-Lehre auf die studentische Psyche herausgestellt und den dringlichen Wunsch deutlich gemacht habe, so bald wie möglich wieder zur Präsenzlehre zurückzukehren, so ist in der FAZ vom 8. Oktober 2020 zu lesen, zeichne jetzt auch eine Studie, die McKinsey und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft über das Digitalsemester gemacht haben, ein ernüchterndes Bild. Unter den elftausend befragten Studenten sei die Zufriedenheit mit der Lehre im Vergleich zum vorausgegangenen Wintersemester von 85 Prozent auf 51 Prozent gesunken. Geklagt werde über soziale Isolation, Motivationsmangel und Konzentrationsprobleme. Quasi zur Strafe (oder wie soll man es anders verstehen?), kommentiert der Redakteur der FAZ, würden die Autoren den Ausbau der Digitalisierung und den Erwerb von „Future Skills“ empfehlen, die natürlich nur online zu bekommen seien. Das Schlagwort sei so fest in den Köpfen verankert, dass kein Faktum ihm etwas anhaben könne, heißt es weiter.
Die entscheidende Frage bei der Konzeption einer möglichen technischen Infrastruktur für Schulen, so die Gesellschaft für Bildung und Wissen weiter, sei keine technische, sondern eine pädagogische: Was, so fragt sie, solle den genau gelernt werden, über Rechner und Netzwerke, am Rechner oder mit dem Rechner? Weil digitale Geräte aber nicht bilden können, beschränkt sich die Hoffnung oft auf „digitales Lernen“, das es genauso wenig gebe. Lernen werde reduziert auf Informationssuche und -entnahme aus digitalen Geräten und Netzen sowie deren Aufnahme und Wiedereingabe in Präsentationen zwecks Nachweis von Kompetenz.“ Das, so die Gesellschaft für Bildung und Wissen, sei lupenreiner Behaviorismus: das Trainieren von Antwortverhalten mittels Reiz und Bewertung der Reaktion. Und da wären wir wieder bei Pawlow und seinen Hunden. Zielgerichtetes und auf bestimmte Aufgaben ausgerichtetes Lernen und Handeln. Also: Der Wecker klingelt. Aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken, in eine „Bildungseinrichtung“ gehen. Ein Signal ertönt (z.B. die Schulglocke) und schon geht es los. (Digitaler) Trichter auf, Wissen rein (was man eben so braucht), fertig ist der konditionierte Mensch.
Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, INSM, ist eine im Jahr 2000 vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gegründete und von Arbeitgeberverbänden getragene advokatorische Denkfabrik und Lobbyorganisation. Sie sagt: „Das Bildungssystem muss die Menschen für die zukünftig benötigten Jobs bestmöglich fit machen, sodass die Volkswirtschaft und damit der gesellschaftliche Wohlstand weiter wachsen können. Auch die individuellen Arbeitsplatzaussichten und Einkommensperspektiven hängen maßgeblich von den in Schule, Berufsausbildung und Hochschule erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten ab. In diesem Sinne verfolgt Bildung ökonomische Zwecke, auch wenn dieser Zusammenhang im ersten Moment eher unvertraut klingt.“ (INSM-FAQ 2020). Damit ist die Katze aus dem Sack.
Die deutsche Bildungskrise sei nicht nur eine der Institutionen, sie sei primär eine der Ideen. Überall herrsche Überforderung und Unzufriedenheit: bei den Lehrern, den Eltern, den Kindern sowieso, auch bei den Politikern. Unseren Bildungsreformen, so Julian Nida-Rümelin, der u.a. einen Lehrstuhl für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen und von 1993 bis 2003 einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Göttingen inne hatte, fehle die kulturelle Leitidee. „Employability“ heiße stattdessen die Losung. Aber eine Bildung, die den Menschen nur „fit für“ etwas machen wolle, die nicht nach seinen Interessen und Talenten frage, werde nicht einmal den gewünschten Markterfolg bringen.
Nida-Rümelins „Philosophie einer humanen Bildung“ gibt den Anstoß zu einer neuen gesellschaftlichen Verständigung darüber, was Bildung bedeutet: für uns, für unsere Zukunft, unser Bild vom Menschen. Er sagt: Wenn wir den Mut zu einer konsequent humanen Bildungspraxis fänden, den Mut, uns vom Gedanken der unmittelbaren Verwertbarkeit zu trennen, wäre die Basis für gelingendes Leben gelegt – und damit auch für eine fundamentale Form von Erfolg: Lebensglück.
Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog, schreibt es Immanuel Kant im Text „Was heißt sich im Denken orientieren?“ (1786). Ohne Orientierung bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbstständig denken und Fragen stellen könnten.
Damit ist eigentlich alles gesagt. Warum ändert sich also nichts? Liegt es vielleicht daran, dass die Verantwortlichen wissen, dass nicht die Änderung des Bildungssystems, sondern des Gesellschaftssystems notwendig ist? Welche Politikerin und welcher Politiker traut sich da schon ran? Schule ist ein Abbild der Gesellschaft. Ändert sich die Gesellschaft, ändert sich die Schule. Umgekehrt funktioniert das (leider) nicht.