Verspielte Zukunft durch digitale Bildungswunder

Anmerkungen zum Beitrag „3 Fragen an …“ mit Antworten von Dr. Nando Stöcklin, PH Bern, unter dem Titel: „Arbeit für eine verspielte Zukunft“. Von Ralf Lankau.

Der Text als PDF: Verspielte Zukunft durch digitale Bildungswunder

Liest man den Beitrag von Nando Stöcklin im Juni-Heft von „Bildung Schweiz“, kommen wunderbare Zeiten auf uns zu. Spielen sei nichts anderes als Lernen, heißt es dort, und könne im 21. Jahrhundert sogar auf das Erwerbsleben ausgedehnt werden. Auch Arbeiten fühle sich in Zukunft an wie Spielen – und man bekommt sogar noch Geld dafür. Spielend lernen, spielend arbeiten, toll. Und es wird noch besser: Der Leistungsdruck in den Schulen werde durch das spielerische Lernen reduziert, Schülerinnen und Schüler könnten stattdessen ganz spielerisch ihre Einzigartigkeit einbringen. Man komme sogar mit weniger Unterrichtsstunden aus. Weniger Schule, weniger Druck: So schön kann Schule sein, so attraktiv kann die neue Arbeitswelt werden, wenn man den Ausführungen von Stöcklin in „Bildung Schweiz“ folgt. Auf seiner Website steht es noch knapper: „Spielen ist das Lernen und Arbeiten des 21. Jahrhunderts.“

Einen Haken hat diese Geschichte allerdings. Sie funktioniert erst nach der digitalen Transformation von Schule und Gesellschaft. Stöcklin selbst gibt auf seiner privaten Seite als Berufsbezeichnung sinnigerweise auch gleich „Transformationscoach“ an. An der digitalen Transformation von Lernprozessen arbeitet auch die PH Bern in ihrem Arbeitsbereich „Digital Learning Base“, an der Stöcklin als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt ist. Erst Transformation, dann Spiel.

Digitale Transformation von Schule und Gesellschaft

Als digitale Transformation von Schule und Gesellschaft wird ein seit mehr als 30 Jahren andauernder Veränderungsprozess bezeichnet, bei dem alle Gesellschaftsbereiche durch den zunehmenden Einsatz digitaler Technologien und dem Aufbau einer immer leistungsfähigeren Infrastruktur ständig mehr Prozesse automatisiert und digital gesteuert werden. Im Idealfall (Stichwort: Industrie 4.0, deren Modelle gerade auf die Sozialsysteme übertragen werden sollen), ist gar kein Mensch mehr an diesen Prozessen beteiligt bzw. greift (per Software) nur noch ein, wenn etwas schief läuft. Diese digitale Transformation beruht auf zwei Säulen:

  1. immer mehr, immer bessere, möglichst vollständige Daten für die zu optimierenden Prozesse durch immer mehr Kameras, Mikrofone und Sensoren. Bei Lernprozessen sind das möglichst viele und kleinteilige Daten über das Lernverhalten der vor dem Bildschirm agierenden Menschen (Stichwort Learning Analytics; siehe Hartong 2019);
  2. Optimierung der technischen Systeme und der eingesetzten Algorithmen zur Datenauswertung (Big Data Analytics, neu: Data Sciences, da Big Data doch zu sehr nach Big Brother klingt). Der übergeordnete Begriff ist „Künstliche Intelligenz“ (KI). Die hat nichts mit Intelligenz im umgangssprachlichen Verständnis zu tun, sondern beschreibt ausschließlich mathematische Operationen: Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Informations- und Psychotechniken

Personenbezogene Daten und ihre Auswertung sind die Grundlage für das kommerzielle Web. Messbarkeit und Messsysteme auf der einen, personalisierte Daten auf der anderen Seite sind auch die Grundlage für die digitale Transformation von Schule und Unterricht. Dafür wird selbst das Spielen instrumentalisiert. Der am Rechner spielende Mensch liefert sensible Daten über Aufmerksamkeitsspannen, Ausdauer, Stressresistenz u.v.m. Da Menschen beim Spielen sehr emotional werden können, sind diese Daten besonders aussagekräftig über die Persönlichkeitsstruktur. Die Verzweckung des menschlichen Spieltriebs passt daher optimal zur Datenökonomie, für die Nutzer oder Spieler nur Datensätze sind. Die Verdatung und Auswertung des Spielens ist zugleich ein Baustein zur generellen „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“, die der Vordenker der Allgemeinen Psychologie, William Stern, bereits im Jahr 1900 prognostizierte. Stern und seine Kollegen postulierten 1912 als psychotechnische Maxime: „Alles muss messbar sein“. Metrik wird zum Universalschlüssel.

Wer dabei an die heute in der Pädagogik dominierende empirische Bildungsforschung, an die Kompetenzorientierung mit ihren kleinteiligen Kompetenzrastern und -stufen oder die Maxime der datengestützten Schulentwicklung denkt, liegt richtig. Messbarkeit wird zum Maßstab von Unterricht, eine ganze Testindustrie mit Pisa, Vera, Timms u.v.a. ist bereits etabliert. Dabei ist das, was als modern behauptet wird, alt. Die Methoden der Psycho-Technik wurden bereits vor mehr als 100 Jahren zur Leitdisziplin des Psycho-Ingenieurs, der daraus die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“ ableitete. (Gelhard, 2011, 100) Ob Schule, Spiel oder Arbeitsplatz: Der Mensch kann mit diesen Techniken nach Bedarf modelliert werden. Nicht das Individuum steht im Mittelpunkt, sondern seine Formbarkeit. Selbst Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann. Der Psychologe David McClelland leitet aus dem Kompetenzbegriff nur wenig später das „pädagogische Versprechen einer umfassenden Formbarkeit des Menschen“ ab. (ebda. 120)

Diese Psychotechniken sind die Grundlage heutiger App- und Spiele-Entwicklung. Über Smartphones, Web & App lässt sich menschliches Verhalten mittlerweile sehr präzise modifizieren (Nudging; Anstupsen) oder mit Hilfe persuasiver (d.h. verhaltensändernder) Technologien un(ter)bewusst manipulieren. Das Web ist „nur“ die technische Infrastruktur“ für die permanente Selbstvermessung der Nutzer durch mobile Geräte. Social-Media-Kanäle, Web-Surfing und Computerspiele sind ein auf Dauer gestelltes Assessment-Center und liefern permanent Nutzer-Daten. Spiele sind dabei ein immens wichtiger Teil, weil Spielerinnen und Spieler dabei emotional vereinnahmt werden. Auch bei Stöcklin geht es nicht um das freie Spielen als (Selbst)Erfahrung oder Persönlichkeitsbildung, wie in der Spielforschung beschrieben, sondern um Fertigkeiten, die man beim Spielen trainiert, um fit für den Arbeitsmarkt zu werden: Spielen als Teil der Selbstoptimierung für den Markt. Trainiert werden sollen Kreativität, Problemlösungsfähigkeiten, Sozialkompetenz, d.h. Fertigkeiten, „in denen die Menschen den Computern noch überlegen sind“, So könne man Nischen im Arbeitsmarkt besetzen, die von IT-Anwendungen derzeit noch nicht abgedeckt werden.

Das Spielen nicht utilitaristisch instrumentalisieren

Merken Vertreter solcher Konzepte nicht, wie inhuman und menschenverachtend diese Argumentation ist? Die digitale Transformation des Arbeitsmarktes bestimmt, was dem Menschen noch zu Lernen bleibt? Dass es bei dieser Form des „Spiels“ gar nicht um das Individuum und den einzelnen Menschen geht, sondern nur noch um die passgenaue Zurichtung für einen digital determinierten Arbeitsmarkt? Was für ein Menschenbild, was für ein Verständnis von Lern- und vor allem Verstehensprozessen manifestieren sich in solchen digital gesteuerten Spiel- und Lernszenarien? Merkt diese Generation der Digital Na(t)ives, die mittlerweile an Schule und Hochschulen unterrichtet, nicht, dass sie selbst nurmehr funktionales Element eines technischen Prozesses der Zurichtung junger Menschen ist? Verstehen sie nicht (mehr), dass das pädagogische Ziel der Mündigkeit nur erreicht würde, wenn die nachkommende Generation gerade nicht als Kompetenzäffchen funktioniert, sondern eigene Wege geht, die weder vorherseh- noch berechenbar sind?

Dabei könnte das freie, selbstbestimmte Spiel sogar helfen, zu sich selbst zu finden. Der den Menschen angeborene Spieltrieb wird als Emanzipations- und Erkenntnisquelle von Platon über Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen bis zu Huizingas „Homo ludens“ vielfach thematisiert. Neugier und Spieltrieb sind Eigenschaften, die man bei Kindern und Jugendlichen auf vielerlei Art fördern kann und unbedingt ermöglichen sollte – ohne Digitaltechnik, die dabei eher hinderlich ist. Denn am Rechner wechseln die Menschen automatisch in den Maschinenmodus und folgen notgedrungen der Logik der Programme. Jedes Werkzeug bestimmt das Arbeiten und mögliche Ergebnisse. Aber nicht die Technik ist entscheidend für das freie Spiel, sondern, wie immer in der Pädagogik, Beziehung, Vertrauen und ein Schutzraum, in dem Kinder und Jugendliche ganz in ihrem Spiel aufgehen können. Der „Transformationscoach“ bildet menschliches Verhalten digital ab, um es zu instrumentalisieren. Der Pädagoge schafft Räume, in denen der Menschen durch das freie, nicht beobachtete und nicht aufgezeichnete Spiel zu sich und, mit Friedrich Schiller, zur Freiheit findet.

Quellen

Gelhard, Andreas (2011) Kritik der Kompetenz

Hartong, Sigrid (2019) Learning Analytics und Big Data in der Bildung. Zur notwendigen Entwicklung eines rentenpolitischen Alternativprogramms. Hrsg.: GEW Frankfurt

Oerter, R. (2007). Zur Psychologie des Spiels. Psychologie und Gesellschaftskritik, 31(4), 7-32. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-292301

Stöcklin, Nando (2020) Arbeit für eine verspielte Zukunft, in „Bildung Schweiz“ (Heft 6/2020, S. 55)

Der Text als PDF: Verspielte Zukunft durch digitale Bildungswunder