Offener Brief zu einem Kommentar von Ralf Caspary (SWR)
Meinungs- und Pressefreiheit sind ein hohes Gut, die Presse die vierte Gewalt. Wenn ein Beitrag zusätzlich als Kommentar gekennzeichnet ist, dürfen auch abwegige Gedanken formuliert werden. Gleichwohl darf man von einem Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders erwarten, nicht nur emotional und faktenfrei zu argumentieren.
Ralf Caspary hat ein Buch von Manfred Spitzer gelesen und sich geärgert. (1) Dieser hat mit dem Buch „Smartphone-Epidemie“ (2) nicht nur ein aktuell kontrovers diskutiertes Thema aufgegriffen – die unübersehbaren sozialen und psychischen Folgen der Smartphonenutzung von Kindern und Jugendlichen – sondern den Stand der Wissenschaft zum Thema mit zahlreichen Studien belegt. Wie ärgerlich. Was tun? Behauptungen aufstellen. Angeblich sei die Auswahl der zitierten Studien selektiv.
Caspary macht sich zwar weder die Mühe, diese angebliche Selektion zu belegen noch andere, Spitzer widersprechende, Studien, anzuführen. Wozu auch. Er ist ja kein Wissenschaftler, sondern Journalist. Der Haken daran: Wer den Kollegen Spitzer, seine Vorträge und Publikationen kennt, weiß, dass Spitzer selbst seine Kritiker auffordert, die angeblich so zahlreich existierenden Gegenstudien zu seinen Thesen zu benennen. Und das Ergebnis? Negativ. Es werden keine Studien und Belege genannt.
Ablehnung statt Argumenten
Einen der wenigen, bundesweit wahrgenommenen Kritiker der Digitalisierung dafür zu kritisieren, dass er konsequent und wiederholt vor den Folgen dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung warnt (unabhägigig von der Geräteform: PC, Laptop, Smartphone), ist so absurd, als würde man den Club of Rome dafür kritisieren, dass er seit 5o Jahren vor dem Klimawandel warnt. Spitzer wie der Club of Rome machen seit Jahren oder Jahrzehnten konsistent und konsequent auf Fehlentwicklungen aufmerksam. Sie stützen ihre Aussagen mit den jeweils aktuellen Untersuchungen und Studien. Das nennt sich Wissenschaft und Empirie. Daher ist es vollständig absurd, einem Wissenschaftler vorzuwerfen, er würde nur mit den Zahlen und Statistiken arbeiten. Mit was denn sonst? Ist das „Gegenmodell Caspary“ – die Verallgemeinerung seiner sicher traurigen Erfahrung mit seiner dementen Mutter und die Behauptung, jetzt zu wissen wie sich Demenz äußere – ein tragfähiges Gegenmodell? Persönliche Betroffenheit statt jahrelanger Forschung und breiter Studienbasis?
Oder: Verharmlosend ist allenfalls Casparys Äußerung, die wissenschaftlich belegten Folgeschäden von Smartphones, Web und App als „harmloses Zerstreungsphänomen“ zu negieren. Ein Blick in die Studienlage, die aktuellen Publikationen, in die Praxen der Kinderärzte oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie belegt anderes. Empfohlen sei nur das Buch von Jean Twenge zu den Folgen der Smartphone-Nutzug von amerikanischen Teenager. Das ist dann amerikanischer Alarmismus?
Wer schließlich die mittlerweile eindeutigen Belege für die Folgen dysfunktionaler Smartphonenutzung mit der Aussage zu entwerten versucht, Mediennutzung und soziale wie psychische Folgen seien ja „nur“ Korrelationen und es ließe sich keine eindeutige Kausalität (Ursache-Wirkung-Prinzip) herstellen, sollte dazu sagen, was der einzige Weg wäre, die hier geforderte Kausalität wissenschaftlich valide zu belegen: Experimenten an und mit Kindern und Jugendlichen. Das ist zu Recht verboten und in Deutschland nur einmal, im Dritten Reich, praktiziert worden.
Anstand und Argument statt Häme
Zu starker Tobak? Mit der Infragestellung wissenschaftlicher Ergebnisse durch die Forderung nach eindeutiger Kausalität statt empirisch glaubwürdiger Korrelation hat zuletzt die Tabakindustrie 40 Jahre lang hervorragende Geschäfte gemacht – und der Bund an der Tabaksteuer hervorragend mitverdient. Soll es wieder 40 Jahre dauern, bis die Politik auf bekannte wissenschaftliche Ergebnisse reagiert und so lange Wirtschaftsinteressen schützt?
Man muss mit Spitzer nicht einer Meinung sein. Im Gegenteil. Das Bündnis für humane Bildung ist bekannt für intensive interne Diskussionen, weil hier Natur- wie Geisteswissenschaftler, Techniker wie Anthroposphen und viele andere Menschen für das Gelingen einer humanen Bildung miteinander streiten. Dabei ist der gemeinsame Nenner immer der gegenseitige Respekt: „Hart in der Sache, verbindlich in der Form.“ (Fortiter in re, suaviter in modo.) Nicht weniger fordern wir auch von Journalisten, in wessen Diensten auch immer sie stehen.
1 Kommentar Caspary: Der Smartphone-Aarmist
2 Manfred Spitzer, Die Smartphoneepidemie, 2018, Klett-Cotta, Stuttgart