Das Projekt „BLIKK-Medien“ oder: Was Kinder- und Jugendärzte über den Einfluss digitaler Medien auf Kinder erforscht haben und empfehlen (FAZ vom 7.6.2017, S. N4)
Wenn in Studien über digitale Medien und Kinder berichtet wird, liegt der Fokus meist darauf, Kinder „fit für die digitale Zukunft“ zu machen. Welche Folgen eine zu frühe und nicht regulierte Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern und Jugendlichen haben kann, zeigt sich in den Praxen der Kinderärzte. Das Spektrum der zu behandelnden Erkrankungen und der Beratungsbedarf bei psychosozialen Problemen haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert, schreiben die Verantwortlichen der BLIKK-Studie.
Studie BLIKK-Medien 2017: Die Ergebnisse
Das Kürzel „BLIKK“ steht für „Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation“. BLIKK-Medien ist ein gemeinnütziges Projekt des Instituts für Medizinökonomie & Medizinische Versorgungsforschung der Rheinischen Fachhochschule Köln (RFH), der Stiftung Kind und Jugend des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, der Universität Duisburg-Essen und der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP). Es steht unter der Schirmherrschaft der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marlene Mortler, die Kosten von 300.000 Euro übernahm das Gesundheitsministerium.
Definiert sind zwei Ziele. Das erste ist, zu verstehen, wie sich digitale Mediennutzung auf die kindliche Entwicklung auswirken. Dazu wurden Daten zum Lebensumfeld, zum Verhaltensmuster und zum Medienverhalten in der Familie erfragt. Erstmalig wurden parallel pädiatrische Früherkennungs-Untersuchungen durchgeführt und umfassender als mit dem üblichen gelben Heft dokumentiert. Das zweite Ziel ist, auf Basis evaluierter Ergebnisse die Eltern bei Früherkennungsuntersuchungen zielgerichteter beraten und unterstützen zu können, um einer möglichen Fehlentwicklung im Umgang mit Medien bereits im Vorfeld vorzubeugen. Im Zeitraum von Juni bis Ende November 2016 wurden knapp 6000 Patienten bis 14 Jahren und ihre Eltern in 84 Kinder- und Jugendpraxen über ihren Medienkonsum und auffälliges Verhalten befragt und untersucht.
Das Ergebnis: 75 Prozent der Kinder im Alter zwischen zwei bis vier Jahren spielen täglich bis zu 30 Minuten am Tag unbeaufsichtigt mit einem Smartphone. Über 60 Prozent der Neun- bis Zehnjährigen schaffen es nicht, sich länger als 30 Minuten ohne digitale Medien und Bildschirm zu beschäftigen. Die Konsequenzen: gestörte Sprachentwicklung, Aufmerksamkeitsschwächen, Aggressivität (nicht signifikant) sowie Schlafstörungen. Das schreckt auf, vor allem, wenn man weiß, dass sich bislang vor allem bildungsnahe Familien an der Befragung beteiligt haben. Bei bildungsfernen Eltern dürften diese Entwicklungen stärker ausgeprägt sein.
Ab dem siebten Lebensjahr gibt es darüber hinaus eindeutige Zusammenhänge zwischen negativen schulischen Leistungen (Lese- und Rechtschreibschwäche), der Aufmerksamkeitsstörung ADHS und längerer Nutzungsdauer von Bildschirmmedien. Zudem stellten die Projektbeteiligten eine Wechselbeziehung zwischen Spielen am Computer, dem Konsum von Süßigkeiten bzw. Süßgetränken und einem erhöhten Körpergewicht fest. Die Querschnittstudie konnte dafür statistisch signifikante Zusammenhänge herausarbeiten. Für den Nachweis eindeutiger Ursache – Wirkung – Beziehungen (Kausalität) bedarf es aber einer nachfolgenden Längsschnittstudie über drei bis vier Jahre, die die Entwicklung der Kinder in den nächsten Jahren beobachtet. Die Kosten dafür belaufen sich auf ca. 500.000 Euro pro Jahr.
Kompetenzgerangel und das leidige Geld
Das übersteigt das Budget des Gesundheitsministeriums (BMG). Angefragt ist daher das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Dort aber werden mit Digitalagenda, Digitalpakt#D und jetzt dem Deutschen Internet-Institut deutlich andere Prioritäten gesetzt. Der Bedarf der Medienwirkungs- und Mediensuchtforschung ist zwar eklatant. Schon heute gelten mehr als 600.000 junge Menschen als medienabhängig. Jedes Jahr erkranken 20.000 Kinder neu an Mediensucht. Aber dafür sieht sich das BMBF nicht zuständig. So droht die dringend notwendige Folgefinanzierung der Längsschnittstudie am Gerangel über Zuständigkeit zwischen BMBF, BMG und der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BzgA) verloren zu gehen.
Es wirkt befremdlich, wenn Bildungsministerin Wanka auf der einen Seite den Schulen mit dem Digitalpakt#D 5 Milliarden Euro für Hardware verspricht – ohne Belege für den Nutzen von Digitaltechnik im Unterricht – , auf der anderen Seite aber nicht einmal 2 Millionen Euro für die Erforschung der Folgen dysregulierter Mediennutzung zur Verfügung gestellt werden. Dann müsste ausgerechnet diese wichtige Studie über private Spenden finanziert werden? Anders als die ohnehin prosperierende IT-Industrie haben Kinderärzte bei diesem Projekt keine kommerziellen Interessen, sondern legen damit die wissenschaftlich fundierte Basis für eine sinnvolle Beratung der Eltern. Denn mehr als 23 Prozent der Eltern fühlen sich beim Thema Kinder und Medien unzureichend informiert. Sie sehen sich selbst nur bedingt als Vorbilder im Umgang mit Medien und wenden sich hilfesuchend an Kinderärzte, die dafür erst weiterzubilden sind.
Zwei konkrete Forderungen ergeben sich aus den Ergebnissen der ersten Studie schon jetzt. Zum einen sollten sich Medienpädagogen neu orientieren. Anstatt bereits Kinder immer früher an das Arbeiten und Konsumieren am Bildschirm zu gewöhnen, sollten Medienpädagogen zusammen mit Kinderärzten und Psychologen Konzepte und Workshops entwickeln, in denen sie den Eltern einen sinnvollen und altersangemessen Umgang von Kindern mit Medien vermitteln. Der zweite, noch wichtigere Punkt ist die Neuausrichtung der Forschung zu und der Finanzierung von Projekten, die sich mit den Folgen der Digitalisierung aller Lebensbereiche befasst. Vorschlag: Für jeden Euro für Pro-Digitalprojekte wird ein Euro in Projekte der Technikfolgeabschätzung, der Mediensucht, Internetsuchtprävention u.ä investiert. Erst so entstünde die wissenschaftlich und gesellschaftlich notwendige Parität der Forschung über das Pro und Contra der Digitaltechnik.
Links: Pressemitteilung der Drogenbeauftragten Marlene Mortler zur BLIKK-Studie; Stiftung Kind und Jugend, BLIKK-Medien 2017