Gastbeitrag von Timo Bautz
Noch lernen alle Menschen mehrere Jahre in Schulklassen und einen großen Teil davon in klassenöffentlichen Unterrichtsinteraktionen. Sie ermöglichen und erzwingen es, dass die Lernenden sich bei der Stoffvermittlung gegenseitig wahrnehmen und beobachten. Wir sehen nicht nur, was die anderen lernen, sondern auch wie sie es tun, mit welchem Interesse und Engagement, wie selbstverständlich oder mit welchem Widerstand. Erfolg und Misserfolg der Vermittlung werden so bis zu einem gewissen Grad sozial transparent. Die Pädagogik hat diesem impliziten Meta-Lernen den Namen „geheimer Lehrplan“ gegeben. Er beeinflusst den Unterricht, bestimmt für jeden Einzelnen die gemeinsame Lernsituation und sorgt über den Stoff hinaus für viele indirekte Lerneffekte. Er prägt unsere Schulsozialisation und Lernbiographie, unsere Einstellung zur Schule und zum Lernen ganz allgemein. Eine wichtige Folge der gegenseitigen Lernwahrnehmung besteht darin, dass wir mit ihrer Hilfe über die Schule hinaus vage beurteilen können, wie sich andere Menschen zu bestimmten Lernzumutung verhalten. Das ermutigt uns, anderen gegenüber, auch wenn wir sie nicht persönlich kennen, einen durchschnittlichen Wissensstand zu unterstellen. Beides ist wichtig, nicht nur im Hinblick auf lebenslanges Lernen, sondern auch für unsere soziale Anschlussfähigkeit in der Gesellschaft.
Tablets im Unterricht und Lernen am eigenen Bildschirm verändern diese Realität in Richtung weniger Interaktion. Das ist unbestritten und beabsichtigt, weil die Koppelung von Lernen an synchrone Gruppeninteraktionen eben auch Nachteile hat. Sie betreffen Ablenkungs- und Störpotentiale der Klasse und Grenzen bei der individuellen Ausrichtung der Vermittlung. Die eigene Zeitregie und das individuelle Lerntempo bei der Stoffaneignung sind sicher ein wichtiger Lernvorteil (auch beim Arbeiten mit Programmen, was die Frage der Schulpflicht neu aufrollen könnte). Aber der Preis ist hoch. Wer eine etwas weitere Perspektive wählt und den Auftrag öffentlicher Schulen im Auge hat, muss die Bilanz kritisch sehen. Mit dem Rückgang der klassenöffentlichen Interaktion beim Lernen, verlieren wir auch die Sicherheit, mit der wir die Lernerfolge und die Wissenshorizonte anderer grob einschätzen können. Genau das aber ist eine wichtige Basis für die Anwendung des Gelernten im Kontakt mit anderen, dem eigentlichen Sinn und Zweck der Schule. Ganz allgemein verliert die Interaktion in der Gesellschaft immer weiter an Boden zugunsten mobiler Fernkommunikation. Und die Frage ist, was passiert, wenn auch die Schule am gemeinsamen Situationserleben und Lernen in themenzentrierten Interaktionen nicht mehr festhält? So gesehen wirft die Tabletklasse Fragen auf, die über rein didaktische weit hinausreichen.
Der ganze Beitrag (10 Seiten) als PDF: T. Bautz: Tablet ohne interaktion
Timo Bautz war mehrere Jahre Lehrer an einem Münchner Gymnasium und arbeitet seit 1997 an der Uni- Würzburg in der Lehrerausbildung für Fachdidaktik Kunst.