Gespräch des Bündnisses für humane Bildung im Kultusministerium Baden-Württemberg am 05.12.2017

Teilnehmer (alphabetisch); [KM]: Dörte Conradi (Abteilungsleiterin, Grund­satz­/­Digitalisierung); Hans-Christoph Schaub (Stellvertretender Leiter des Referats 53, Medienpädagogik, digitale Bildung); Michael Zieher (Referatsleiter, Referat 53, Medienpädagogik/digitale Bildung), Teilnehmer [Bündnis]: Peter Hensinger (Diagnose Funk), Ralf Lankau (Hochschule Offenburg, Fakultät Medien und Informationswesen), Ingo Leipner (Textagentur EcoWords, Worms)

Tischvorlage und Themen

Am 5.12.2017 war eine Delegation des „Bündnis für humane Bildung“ zu einem Meinungsaustausch mit Verantwortlichen für „Digitalisierung der Schulen“ im Kultusministerium Baden-Württemberg eingeladen. Dem Bündnis wurde damit die Gelegenheit gegeben, digitalkritische Positionen, konkrete Fragen und Vorschläge an das KM darzulegen, die, basierend auf der Petitionen „Trojaner aus Berlin – der Digitalpakt#D“ und dem „Offenen Brief an die Kultusminister – Irrweg der Bildungspolitik“ sowie einer ergänzenden Tischvorlage (s.u.)  vorgetragen wurden. Weitere Themen des Gesprächs waren unter anderem

  • Einfluss der IT-Wirtschaft (Gefahren der Einflussnahme durch Sponsoring);
  • konkreter und vor allem wissenschaftlich valider Nutzen von Tablets bzw. mobilen Geräten in der Schule;
  • digitale Geräte, funktionale und dysfunktionale Mediennutzung im Elternhaus (Stichwort Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen);
  • die Frage, ob und ggf. wie Schulen angemessen und altersgerecht darauf reagieren (können).

Teilweiser Konsens, aber auch Diskussionsbedarf mit den Vertretern des Kultusministeriums:

Konsens bestand darin, dass auch digitale Medientechnik nur nach pädagogischen Prämissen eingesetzt werden soll. (Nicht geklärt ist, was als konkret ausformulierte Prämisse des pädagogischen Primats gelten kann/soll.) Einigkeit bestand darüber, dass nur „der sinnvolle Einsatz von digitalen Medien im Unterricht“ zu rechtfertigen ist. Das Kultusministerium verweist hier auf den Bildungs- und Erziehungsauftrag sowie die Fürsorgepflicht für Lernende und Lehrende. Während das Bündnis mit dem Arbeitspapier „Zwischentöne statt Schwarzweiß“ [Link] bereits konkrete, nach Altersstufen und Fachinhalten gestaffelte Vorschläge gemacht hat, ist die inhaltliche Definition des sinnvollen Einsatzes von Seiten des Ministeriums unserer Meinung nach (noch) nicht definiert. Hier besteht expliziter Forschungs- und Definitions­bedarf.

Während die Vertreter des Ministeriums, bedingt durch die Aufgabenstellung der Abteilung „Grundsatz / Digitalisierung“ in der Diskussion das Thema Medienpädagogik auf den Einsatz von Medien (u.a. elektronische Geräte oder andere den Unterricht unterstützende Hilfsmittel) bzw. das Reflektieren über Medien (u.a. Internetangebote, Filme, Zeitungen) beziehen, ist für uns das erste und wichtigste Medium im Unterricht die Sprache, sind Stimme, Mimik und Gestik. Vor Investitionen in Medientechnik oder IT müssen Sprach- und Stimmtraining und Kurse in Rhetorik für angehende Lehrkräfte stehen. (Nur wer frei sprechen kann, kann gut erklären.) Dazu kommen alle analogen Medien wie Buch, Übungsblätter oder Tafelanschrieb – vor allen elektronischen oder digitalen Medien. (1) Die IGLU -, die BLIKK-Studie und die Studie des BMBF bestätigen aus unserer Sicht direkt und indirekt, dass die schulische und außerschulische Nutzung digitaler Medien zu gravierenden Defiziten führt und die Schule bei den Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen erheblichen „analogen“ Nachholbedarf hat.

Hier besteht Dissens: Das Kultusministerium sieht im pädagogisch sinnvollen Einsatz elektronischer und digitaler Medien eine Möglichkeit, individuelle Lernprozesse zu unterstützen und neue Möglichkeiten des Lernens zu eröffnen. Gerade auf Grund der angesprochenen Risiken (Sucht, Datenschutz, Mobbing, Privatsphäre usw.) müssten die Schüler auch früh bei der Nutzung begleitet werden und gegenüber den Risiken sensibilisiert werden. Der Verzicht darauf liefere die Kinder diesen Risiken aus.

Wir stimmten dieser Sichtweise prinzipiell zu, halten aber eine andere Methode für zielführend. KiTas und Grundschulen sollen „digitalfreie Oasen“ sein. Der Grund: Kinder vor dem 12. Lebensjahr sind auf Grund ihrer Gehirn-Entwicklung noch nicht in der Lage, digitale Medien zu beherrschen – und sind dem Suchtpotential dieser Technologie ausgeliefert. Kindertagesstätten und Grundschulen müssen deshalb in der pädagogischen Arbeit digitalfrei sein. Kinder müssen erst in der realen Welt zu Hause und dort sicher sein, bevor sie virtuelle Welten erkunden. Was schon in der Grundschule thematisiert werden muss, ist das Mediennutzungsverhalten (konkrete Inhalte und mögliche Folgen der Mediennutzung).

Es ist wie mit dem Fernsehen. Niemand unterrichtet Fernseh­schauen in der Grundschule, obwohl die meisten Kinder zu Hause fernsehen. Man muss aber über Gesehenes und Erlebtes mit den Kindern in der Schule sprechen, damit sie es verarbeiten können. Dieser Transfer ist in unserer Wahrnehmung typisch für Unterricht: Im Verkehrsunterricht lernen Kinder richtiges und sicheres Verhalten im Straßenverkehr, ohne mit acht oder zehn Jahren den Führerschein zu machen. Smartphones und Tablets sind eben nicht normale Hilfsmittel, sondern beinhalten die ausgeführten Risiken. Problematische Inhalte treten bei digitalen Medien in einer weit größeren Größenordnung als beim Fernsehen auf. Wir wiesen auf die Erkenntnisse aus der Neurobiologie hin. Forschungen weisen nach, dass die frühe Nutzung zu Stoffwechselstörungen im Gehirn führt, die v. a. das Suchtverhalten provozieren. Das Bündnis ist der Meinung, dass ca. ab dem 12. Lebensjahr die Schüler reif für die Nutzung der Geräte sind, Dies sei auch die Empfehlung der BLIKK-Studie.

Bisher hätten alle Untersu­chungen ergeben (z.B. OECD-Studie, Hamburger BYOD-Studie), dass der Einsatz digitaler Medien nicht automatisch zu besserem Lernen führe. Wann und unter welchen Umständen digitale Medien als Hilfsmittel eingesetzt werden sollen, muss erst noch erforscht werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich als gemeinsames Ziel formulieren lässt: Allen Kindern und Jugendlichen solle eine möglichst gute Schulbildung und individuelle Förderung (als Voraussetzung für die aktive Teilhabe in Gesellschaft und Beruf) ermöglicht werden. Über die Frage, ab welchem Alter und für welche konkreten Inhalte und Zwecke digitale Medien dabei hilfreich eingesetzt werden könnten, um Bildungs- als Emanzipationsprozesse zu initiieren, besteht Diskussionsbedarf.

Die Vertreter des Bündnisses forderten, dass die Auseinandersetzung über diese beabsichtigte Weichenstellung in der Bildungspolitik wissenschaftlich, d.h. auch unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Konzepte der Kritiker, geführt werden muss. Wir schlugen u.a. vor:

  • Das Ministerium soll einen Kongress mit Lehrerverbänden und Elternverbänden sowie Fachwissenschaftlern unterschiedlicher Profession (Lern- und Entwicklungspsychologie, Pädiatrie, Kognitionswissenschaftler, Mediensuchtprävention u.a.) organisieren, um in einem ergebnisoffenen Diskurs den Sinn und Unsinn von Digitaltechnik im Unterricht kritisch und kontrovers zu reflektieren. Das Ministerium hält einen solchen Kongress alleine nicht für zielführend. Das KM strebt vielmehr einen breiten Prozess der Auseinandersetzung mit allen Beteiligten und wissenschaftlichen Positionen an, um die Frage nach dem päd. sinnvollem Einsatz und den möglichen Wirkungen zu erörtern.
  • Bei allen Schulversuchen mit Digitaltechnik sollten alternative-Treatment Kontrollgruppen für valide Wirkungsvergleiche eingebunden, um analoge und digitale Lehrmedien im direkten Vergleich testen und bewerten zu können. Das Ministerium weist darauf hin, dass es diesen Weg in einzelnen Projekten (z. B. Tableteinsatz am Gymnasium unter Begleitung der Uni-Tübingen) bereits verfolgt
  • Das Ministerium/ KMK soll ein Forschungsprojekt durchführen, das die kognitive Entwicklung von Kindern in Schulen mit „analogem“ Unterricht und besonderer Förderung in Sport, Kunst, Werken und Theaterspielen mit Schulen, die digitale Bildung durchführen, vergleicht. Das Kultusministerium bestätigte hierzu, dass der Stellenwert von Sport, Kunst, Werken und Theaterspielen als Bestandteil ganzheitlicher Bildung nicht im Wettbewerb zum Einsatz digitaler Medien steht.

Als Vertreter des Bündnis für humane Bildung:

Peter Hensinger, Ralf Lankau, Ingo Leipner

Texte zum Nachlesen

1) Zur Klassifizierung der Medien nach technischen Kriterien siehe Harry Pross (1972) Medienforschung, S. 128f und Lankau (2007) Lehrbuch Mediengestaltung, S. 61f