Fortsetzung: Auf dem Silbertablet serviert

Lernen auf der Basis von Spielen? Diese Idee begründet sich durch den Alltag heutiger Jugendlicher. So hat sich Christine Gräfe mit Computerspielen zum Transfer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse beschäftigt. Sie schreibt in ihrer Dissertation:[1]„Computerspiele [stellen] einen großen Anteil in der Freizeitgestaltung der Jugendlichen[dar], und es liegt nahe, dass die Integration dieses Mediums in den Unterricht Vorteile mit sich bringen würde. […]“

Gräfe beschreibt weiter, wie sich eine Spirale der Konkurrenz zu drehen beginnt: Computerspiele werden immer raffinierter, und die Ansprüche der jungen Nutzer klettern in die Höhe. Das wirkt sich auf die Erwartungen gegenüber „Computerlernspielen“ aus, die in Sachen Grafik, Story etc. nicht zurückbleiben dürfen. „Dies bedeutet“, so Gräfe, „dass professionelle GameDesigner und Grafiker an der Produktion von Computerlernspielen beteiligt sein müssen“. Konventionelle Computerspiele werden zum leuchtenden Vorbild. Es sollten alle Elemente bekannt sein, „die einen Spieler ein Computerspiel gerne und freiwillig spielen lassen.“ Nur so ist es möglich, „Lernspiele zu erstellen, die mit gleicher Faszinationskraft auf den Lernenden wirken wie Computerspiele“, so Gräfe weiter.

Wie entsteht diese „Faszinationskraft“? In der Realität versuchen wir alle, unsere Umgebung zu kontrollieren und zu beherrschen. Dieses seelische Grundbedürfnis spiegelt sich in Computerspielen: „In der virtuellen Spielwelt erhält der Spieler die Möglichkeit, den im realen Leben permanent potentiellen Kontrollverlust hinter sich zu lassen und zu bewältigen“, schreibt Gräfe. Spieler erhalten am Rechner die Gelegenheit, Macht und Kontrolle über das Spielgeschehen auszuüben. Der Spieler kann, so Gräfe, auf diese Weise der trüben Realität entkommen. Die Suchtforschung nennt das eine Flucht aus der Welt.

Dieser psychische Mechanismus spiegelt sich in einem Buchtitel – mit einer verblüffenden Ehrlichkeit: „Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern“. Computerwelten besser als reale Welten? Das Buch veröffentlichte 2012 die Spiele-Entwicklerin Jane McGonigal, die über die Realität schreibt:[2] „Verglichen mit Games macht die Realität depressiv. Games fokussieren unsere Energie auf etwas, in dem wir gut sind und was uns Spaß macht – mit einem unzerstörbaren Optimismus.“ Dabei verrät sie gleich das Geschäftsmodell der Gaming-Industrie und ihrer Programmierer:

„Wie glücklich machen sie die Spieler? Game-Designer haben ihre Lektion gelernt: Sie streben unermüdlich nach Glückserlebnissen für den Spieler, inklusive eines ‚Flow‘. Und auf diesem Weg haben sie viele andere Glücksstrategien erfunden.“

Was ist ein „Flow“?

Diesen Begriff machte Mihály Csíkszentmihályi 1975 populär. Der Professor für Psychologie beschreibt den „Flow“ als „optimale Erfahrung“:[3] Menschen vergessen ihr Gefühl für Raum und Zeit; sie verschmelzen mit ihrer Aufgabe und glauben, alles unter Kontrolle zu haben. Hunger oder Durst spielen keine Rolle mehr; eine tiefe Konzentration für die Aufgabe tritt ein. Das sind alles Komponenten eines starken Glücksgefühls. Wer im „Flow“ ist, für den fließt das Leben. (englisch, flow: fließen, Fluss). Eigentlich eine schöne Sache, oder?

Doch Csíkszentmihályi bemerkt kritisch: Zwar ist es o. k., Glück und Freude als Teil des genetischen Programms zu suchen, etwa durch Essen oder Sexualität. Menschen sollten aber diese unterbewussten Impulse kennen und kontrollieren, wenn andere Ziele in den Fokus rücken. Als Problem sieht der Psychologe:

„Wenn wir ohne jede Frage der Genetik oder sozialen Anforderungen folgen, geben wir die Kontrolle über unser Bewusstsein auf und werden zu hilflosen Spielzeugen unpersönlicher Kräfte. Kann ein Mensch nicht Nein zu Essen oder Alkohol sagen, oder konzentriert sich sein Verstand dauernd auf Sex, ist er nicht in der Lage, seine psychische Energie zu steuern.“

Jetzt wird deutlich, warum der „Flow“ eine wichtige Rolle für Gamedesigner spielt, eine Rolle, die bereits McGonigal als „Glücksstrategie“ benannt hat. Der „Flow“ saugt Menschen in die virtuelle Welt der Computerspiele, wobei sie ein „Glück“ erleben, das tiefe Schichten unterbewusster Impulse anspricht, etwa den nach Kontrolle des Lebens oder den Wunsch nach Selbstwerterhöhung.

Lassen wir zu diesem Thema einen weiteren Experten zu Wort kommen: Der „Flow“ sei „ein funktionierendes theoretisches Konstrukt“, damit „Computerspiele zu einem verstandenen, unterhaltsamen und immer bedeutungsvolleren Medium“ werden, schreibt Christian Huberts.[4] Doch der Spiel-Experte wirft eine wichtige Fragen auf: „Macht es wirklich nachhaltig glücklich, gedanken- und bewusstlos durch den Tunnel des Flows zu düsen?“

Überraschend kritische Worte, und Hubert fährt fort: „Wohl kaum jemand fragt sich im Eifer des Computerspiels, was er da gerade tut“, schreibt der Experte. „Im Idealfall ist der Spieler mit seiner Aufmerksamkeit komplett in der Action des Spiels versunken.“ Der perfekte „Flow“! Dramatisch die nächste Aussage: „Das Bewusstsein des Selbst wird dabei vorübergehend amputiert und zur Optimierung von Glück und Erfolg durch die volle Konzentration auf das Spiel substituiert.“

Der Verlust der bewussten Selbstwahrnehmung ist das Einfallstor, durch das Manipulateure aller Art direkt in den Kopf marschieren, etwa mit werblichen Anreizen für In-App-Käufe. Wer sein Gehirn „amputieren“ lässt, verliert die Herrschaft über sich selbst, genauso wie es Csíkszentmihályi befürchtet hat: Wir geben die „Kontrolle über unser Bewusstsein auf und werden zu hilflosen Spielzeugen unpersönlicher Kräfte.“

Vor diesem Hintergrund halten wir Computerspiele mit „Flow“-Charakter nicht dafür geeignet, als Blaupause für Lernprogramme zu dienen. Wir könnten zwar Schüler am Computer in einen „Flow“ schicken, damit sie leichter lernen. Aber: Das ist ein klarer Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung! Kinder und Jugendliche würden psychischen Manipulationen zum Opfer fallen, wie sie bereits die Game-Industrie zum Geschäftsmodell gemacht hat. Suchterzeugende Technologie darf aber keinen Platz im Klassenzimmer haben.

Es gibt aber einen anderen Weg zum „Flow“, den Csíkszentmihályi ebenfalls beschreibt: „Die besten Momente in unserem Leben sind nicht entspannte Zeiten, geprägt von Passivität und reiner Rezeptivität […]. Es sind Momente, für die wir hart gearbeitet haben, um sie zu erreichen.“ Diese Gedanken nehmen wir jetzt auf, wenn wir uns der These von John Hattie und Klaus Zierer zuwenden: „Ich sehe Lernen als harte Arbeit“.  Vorsicht! Diese Aussage spiegelt keinesfalls den Wunsch wider, in preußische Kadettenanstalten des 19. Jahrhunderts zurückzukehren.

Zierer und Hattie stellen die Erkenntnis in den Mittelpunkt, „dass harte Arbeit einer der besten Wege ist, um zu tiefer Zufriedenheit und Genugtuung zu gelangen.“[5] Dabei stützen sie sich auf die „Flow“-Forschung von Csíkszentmihályi. Er habe gezeigt, „dass Menschen, die aufgrund von Anstrengung und Einsatz, den diese in einer für sie herausfordernden Situation zeigen, in einen Zustand des Getragenwerdens verfallen können.“. Ein solcher „Flow“ stellt sich durch eigene Aktivität ein – und wird nicht durch eine geschickte Software hervorgerufen, die manipulativ eine „Glücksstrategie“ verfolgt (McGonigal).

Die Wissenschaftler schreiben: „Lernen hat mit dem Ausloten der eigenen Möglichkeiten zu tun, mit der Frage, wo die eigenen Grenzen sind, mit Versuch und Irrtum, mit Fehlern, Irrwegen und Umwegen“. Eine sehr schwierige Aufgabe, zumal der Lernende stets das eigene Scheitern vor Augen hat. Er muss „mit Disziplin, Einsatz und Anstrengung“ dicke Bretter bohren, um zu seinem Ziel zu kommen. Krönt Erfolg die Arbeit, sind Glücksgefühle nicht mehr weit.

„Konzentration, Ausdauer, Engagement“: Diese Fähigkeiten werden für viele Lernende zu „einem Schlüssel für Bildungserfolg“, so die Wissenschaftler.  Vor diesem Hintergrund sind Ergebnisse nicht erstaunlich, die Hatties große Studie „Visible Learning“ an den Tag gebracht hat, wenn Computer das Lernen verbessern sollten. Diese Faktoren blieben unter der Grenze der Wirksamkeit: „Computerunterstützung“; „Simulationen und Simulationsspiele“; „Nutzung von Taschenrechnern“; „Visuelle bzw. audiovisuelle Methoden“. Dazu die Wissenschaftler: „Keine dieser technischen Errungenschaften ändert also die Natur des Lernens, die sich vor allem darin zeigt, dass Lernen harte Arbeit ist.“

Wie aber entsteht eine Motivation, mit viel Mühe dicke Bretter zu bohren? Durch permanentes Feedback in Form von Belohnungssystemen und Bestenlisten? Diese digitalen Instrumente sind im Einsatz, um Schüler für Lernprogramme zu gewinnen, begleitet von erhofften „Flow“-Erlebnissen. Sie erinnern aber stark an die „operante Konditionierung“, die auch in Lernprogrammen Verwendung findet: Sternchen, Taler, Herzen, dazu ein kleiner Tusch als akustisches Signal – und schon weiß das Kind, es hat alles richtig gemacht. Nächste Aufgabe, wieder Sternchen, Taler, Herzen … und ein Tusch darf erneut nicht fehlen. Auf diese Weise beginnt die extrinsische Motivation die Herrschaft zu übernehmen, und Leistung wird an audio-visuelle Signale gekoppelt. Der innere Antrieb (intrinsische Motivation) kann so bei Kindern erlahmen.

 Die große Gefahr besteht, dass Kinder mit einer starken intrinsischen Motivation starten, die Welt zu erkunden. Je länger sie aber durch Bildungseinrichtungen laufen, desto größer wird das Risiko, dass extrinsische Motivation ihre inneren Antriebe korrumpiert. Wir verzichten besser auf das Feuerwerk externer Reize und unterwerfen Kinder keinem Ranking, wie es digitale Bestenlisten auf Klassenebene vorsehen. Feedback gibt ein engagierter Lehrer im Gespräch, er achtet auf einen guten Lernweg zwischen Unter- und Überforderung.

Genau diesen „Mittelweg“ betrachtete bereits Mihály Csíkszentmihályi als Voraussetzung, durch eigene Aktivität einen „Flow“ zu erleben. Der Mensch ist also Mensch, wo er durch intrinsische Motivation große Leistungen erbringt, fast am Limit, aber immer im Bereich seiner Möglichkeiten. Computer schaden dieser intrinsischen Motivation, wenn sie der operanten Konditionierung dienen. Wir können auf sie oft im Klassenzimmer verzichten.

Die Begeisterung für Soft- und Hardware vernebelt den Blick, was u. a. seit Jahrtausenden die Grundlage von Lernprozessen ist: die Haltung der Lehrer als Vorbild, intrinsische Motivation auf Seiten der Schüler, verbunden mit dem Willen, hohe Anforderungen zu bewältigen. Das alles wird weggespült vom Wunsch, leicht und einfach Lernhäppchen zu servieren bzw. serviert zu bekommen. Am besten durch „Gamification“ auf einem Silber-Tablet!

Der Text erschien in der „Naturheilkunde“ (Juni 2021). Er ist die gekürzte Fassung des Kapitels „Auf dem Silber-Tablet serviert!“, das zum Buch „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ (Redline, München, 2020) gehört.

 Über den Autor:

 Ingo Leipner, Dipl.-Volksw. und Wirtschaftsjournalist

 Autor kritischer Bücher zur Digitalisierung der Gesellschaft: „Die Lüge der digitalen Bildung“ (mit G. Lembke, 2015); „Heute mal bildschirmfrei“ (mit P. Bleckmann, 2018); „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ (2020). Textagentur EcoWords: www.ecowords.de

 [1] Gräfe, Christine (2011): „Das Design und der Einsatz von Computerspielen für den Wissenstransfer naturwissenschaftlicher Lerninhalte zwischen Universitäten und Schulen“, Diss., Freie Universität Berlin, in: https://www.fachportal-paedagogik.de/literatur/vollanzeige.html?FId=989522#vollanzeige vom 30.06.2020

[2] McGonigal, Jane (2011): Reality is Broken. Why Games Make Us Better and How They Can Change the World”, Jonathan Cape, London

[3] Csíkszentmihályi, Mihály (1990): “Flow. The classic work on how to achieve happiness”, RIDER, London u. a.

[4] Huberts, Christian (2014): „Eine Kritik am Flow als Game-Design-Paradigma. Oder: Warum ich lieber gegen den Flow schwimme“, in:  https://christianhuberts.de/2014/02/05/eine-kritik-am-flow/ vom 29.06.2020

[5] Hattie, John / Zierer, Klaus (2019): „Kenne deinen Einfluss! ‚Visible Learning‘ für die Unterrichtspraxis“, 4. Aufl., Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler